: Eine Frau namens Rachid
Fatna el Bouih wurde in eine Zelle auf dem Polizeikommissariat in Rabat gebracht und mit verbundenen Augen zum Folterzentrum von Casablanca verfrachtet. Ein Porträt über die Zeit des Schweigens, der Dunkelheit und der Angst
von KATRIN SCHNEIDER
Eine junge Frau Anfang 20 schaut auf den Fluss Bou Regreg, der die beiden Städte Rabat und Salé voneinander trennt, spürt die warme Luft auf ihrer Haut und hängt ihren Träumen nach. Sie fühlt sich gereinigt und belebt nach einem Besuch des Hamams. Nun klopft sie an die Tür einer Freundin in einem Arbeiterviertel in Rabat. Die Tür wird geöffnet, fremde Männer ziehen sie gewaltsam in die Wohnung, ihr Begleiter, ein Sahraui, versucht zu fliehen, wird aber sofort gefasst.
Für Fatna el Bouih beginnen an diesem Tag im Jahr 1977 fünf Jahre des Grauens. Sie wird in eine Zelle in einem Polizeikommissariat in Rabat eingesperrt, ohne Licht und ohne Nahrung. Nach zwei Tagen wird sie mit verbundenen Augen auf einen Lastwagen verfrachtet und nach Casablanca gebracht. Sie macht sich keine Illusionen darüber, was sie an dem Ort erwartet, in dem sie gelandet ist. Das Derb Moulay Cherif hat in Marokko eine traurige Berühmtheit erlangt: Dieses Polizeikommissariat in Casablanca diente schon den Kolonialherren als Folterzentrum. Direkt nach ihrer Ankunft im Derb Moulay Cherif erhält Fatna el Bouih einen neuen Namen: Rachid Nr. 45.
Es hat fast 20 Jahre gedauert, bis sie über die folgenden fünf Jahre ein Buch mit dem Titel „Eine Frau mit dem Namen Rachid“ schreiben konnte, das kürzlich in dem marokkanischen Verlag Le Fennec auf Französisch erschienen ist. Sieben Monate verbrachte sie im Derb Moulay Cherif, mit hunderten weiterer Personen dicht gedrängt auf einem Gang, mit verbundenen Augen, sieben Monate des Schweigens, denn jede Kommunikation unter den Gefangenen war verboten, sieben Monate ohne Bewegung, ohne Kleidung zum Wechseln, ohne jegliche Informationen von außerhalb, sieben Monate regelmäßiger Folter, Tag und Nacht, bei der Männer und Frauen – ganz gegen die sonstigen marokkanischen Gewohnheiten – gleich behandelt wurden, sieben Monate mit Krankheiten jeglicher Art: Migräne, Infektionen, Nesselfieber, Hautkrankheiten. Das einzige Privileg, das die sechs Frauen ihren männlichen Leidensgenossen gegenüber hatten: Sie brauchten keine Handschellen zu tragen. Und so konnten sie zumindest mit den Fingern kommunizieren.
Wann immer es möglich war, erzählten sie sich mit ihren Fingerkuppen Geschichten, die sie auf ihre Hüften und Arme schrieben. An ihrem veränderten Herzschlag nach der Rückkehr von einem Verhör bemerkten die Frauen, dass eine von ihnen sexuell missbraucht worden war, und probten den Aufstand. Dieses Gefühl der Solidarität und der feste Glaube an ihre Ideale gab Fatna el Bouih die Kraft zum Durchhalten.
Nach sieben Monaten wurden alle sechs Frauen in ein Gefängnis nach Meknes gebracht, wo sie in der dortigen Krankenstation untergebracht wurden, einem 15 qm großen Raum. Nach all den Monaten konnten sie sich zum ersten Mal wieder sehen und miteinander reden. Aber ihre Haftbedingungen waren erbärmlich und besserten sich erst, als sie nach einem 20-tägigen Hungerstreik als politische Gefangene anerkannt wurden und Privilegien erhielten, wie das Recht, Bücher und Zeitungen zu lesen, Radio zu hören, ihre Familien auch außerhalb der vergitterten Besuchsräume zu sehen.
Erst drei Jahre nach ihrer Verhaftung wurde Fatna el Bouih in einem Prozess zu fünf Jahren Haft verurteilt. Vorgeworfen wurde ihr die Konspiration gegen die Sicherheit des Staates, die Verbreitung verbotener Publikationen und die Mitgliedschaft in der marxistisch-leninistischen Untergrundorganisation 23. März, die nach dem Tag der Niederschlagung von Arbeiter- und Studentenunruhen in Casablanca im Jahr 1965 benannt war, bei der es hunderte von Toten gegeben hatte.
Die Organisation war aus der nationalen Studentengewerkschaft hervorgegangen, die Anfang der 70er-Jahre Streiks organisierte, um verbesserte Studienbedingungen und das allgemeine Recht auf Bildung zu erwirken, und die dem Regime von Hassan II. als Unruheherd in einer wirtschaftlich angespannten Situation ein Dorn im Auge war.
Fatna el Bouih hat ihren „Hunger nach Wissen“ – wie sie es nennt – auch im Gefängnis behalten und arbeitete hart dafür, ihr Soziologiestudium abzuschließen.
In ihrem Buch erinnert sie sich an einen Besuch ihrer damaligen Professorin Fatima Mernissi bei ihr im Gefängnis. Zu Fatima Mernissi, bei der sie damals ihre Prüfungen abgelegt hat, hat sie noch heute ein enges Verhältnis. Sie nimmt an den Schreibateliers teil, die die bekannte Schriftstellerin für verschiedene Gruppen der Zivilgesellschaft anbietet, und arbeitet zusammen mit anderen ehemaligen politischen Gefangenen zurzeit an zwei gemeinsamen Buchprojekten. Schreiben ist für Fatna el Bouih eine Art Therapie, es ist wie eine Häutung, bei der eine alte Haut abgelegt wird. Und es ist für sie eine Möglichkeit, sich als Frau an eine größere Öffentlichkeit zu wenden. Denn sie ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Mädchen – wie sie sagt – dazu erzogen werden, ihren Mund zu halten. Dagegen revoltiert sie – immer noch.
Knapp zehn Jahre nach ihrer Entlassung aus der Haft war der Kampf für die Rechte von Frauen der Anlass für sie, sich wieder politisch zu engagieren. Sie beteiligte sich an der 1-Millionen-Unterschriften-Kampagne zur Änderung des marokkanischen Personenstandsrechts, die im Jahr 1992 von der Frauenorganisation Union d’Action Féminine lanciert wurde, mit deren Präsidentin Latifa Jbabdi sie eine Zeit lang eine Zweierzelle geteilt hat, nachdem sie beide im Gefängnis als besonders renitent eingestuft worden waren.
Mittlerweile engagiert sich Fatna el Bouih in verschiedenen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen. Seit 1995 arbeitet sie einmal wöchentlich ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Gewalttaten geworden sind. Außerdem kümmert sie sich als Mitglied der Organisation Insaf um Frauen mit unehelichen Kindern, die häufig im Gefängnis landen, wo Fatna el Bouih sie regelmäßig besucht. Für diese Arbeit hält sie sich prädestiniert, denn das Innenleben von Gefängnissen kennt sie zur Genüge, aber mittlerweile – so fügt sie mit einem Schmunzeln hinzu – könne sie zum Glück ja selbst entscheiden, wann sie das Gefängnis wieder verlassen möchte.
Nach dem Tod von König Hassan II. im Juli 1999, durch den eine Aufarbeitung der jüngsten Geschichte und eine kritische Diskussion der Situation im Land in gewissem Umfang möglich geworden ist, hat Fatna el Bouih zwei Organisationen mitgegründet: zum einen das Observatoire Marocaine des Prisons, das sich für eine Verbesserung der Haftbedingungen von normalen Strafgefangenen engagiert, zum anderen das Forum für Wahrheit und Gerechtigkeit, das sich dafür einsetzt, die Verbrechen der sog. „bleiernen Jahre“ unter der Tyrannei Hassans II. restlos ans Licht zu bringen, die Opfer zu entschädigen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Fatna el Bouih, die neben ihrem Engagement in der Zivilgesellschaft hauptberuflich an einem Gymnasium arabische Literatur unterrichtet, glaubt, „dass die Erinnerungsarbeit für die marokkanische Gesellschaft ernorm wichtig ist, denn nur dadurch kann verhindert werden, dass wir so eine Zeit noch einmal erleben“. Sie träumt von einer besseren Zukunft für ihre beiden kleinen Töchter, in einem demokratischen Land, in dem die Würde des Menschen geachtet wird. Noch heute geht sie regelmäßig in den Hamam, um Kraft zu schöpfen und ihren Gedanken nachzuhängen. Nur des Nachts werden die Träume manchmal immer noch zu Albträumen. Dann, wenn Fatna el Bouih wieder zu Rachid Nr. 45 wird.
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