Die Fähigkeit, zu verlieren

Bei dieser WM gab’s etwas Neues: Deutsche, die nicht arrogant sind. Deshalb waren sie so erfolgreich

Am Ende hatten sie verloren – und waren doch fast froh: ein seltener Zustand bei Deutschen. Gerade bei WMs waren sie arrogant bis zur Übelkeit. Gegen Mannschaften wie Bulgarien und Kroatien auszuscheiden empfand man als Demütigung – man hatte Besseres verdient. Berti Vogts pöbelte 1998 beleidigt gegen dunkle Mächte, die den Deutschen missgönnten, was ihnen naturgemäß zusteht: „Erfolg“. Vogts war das Äquivalent zum deutschen Spießer, der meint, sich im Ausland alles erlauben zu können. Und die deutschen WM-Teams waren oft Spiegel dessen, was wir an diesem Land zu hassen liebten. In ihrer Hochnäsigkeit war ein trüber Rest von Herrenmenschentum, sie waren unfähig, schön zu siegen oder wenigstens anständig zu verlieren. Vogts war das Pendant zu Waigel, der der EU deutsche Spardisziplin verordnete. Vorbei. Heute drohen Eichel blaue Briefe aus Brüssel.

Bei dieser WM sind die Deutschen ins Finale gekommen, nicht mit Siegesarroganz, sondern im steten Bewusstsein der nahen Niederlage. Sie wussten, besser als Franzosen und Argentinier, dass sie gegen jeden verlieren können. Seit dem 0:3 gegen die B-Elf Portugals bei der EM 2000 ist hierzulande etwas eingekehrt, was es seit 1954 nicht gab: Bescheidenheit. Das war, List der Geschichte, die richtige Einstellung im unübersichtlichen globalisierten Fußball.

Das ist auch der späte Abschied von der bundesdeutschen Aufstiegslegende, die 1954 begann und schwer nach Arbeiterschweiß roch. Deutschland ist kein Land von manisch fleißigen Angestellten, ruppigen rechten Verteidigern und ewigen Ehrgeizlingen mehr. Lange mussten sich die Deutschen zum „Modell“ stilisieren und, in Fußball und Wirtschaft, die Konkurrenz niederwalzen. Sie waren effektiv, fantasielos und unbeliebt. Jetzt ist die peinliche Sucht der Nachkriegszeit, immer Erster sein zu müssen, endlich perdu. Sie ist verschwunden – so wie der hartnäckige D-Mark-Nationalismus, der jahrzehntelang regierte und sich dann stumm in nichts auflöste. Dass das Symbol von 1954, Fritz Walter, während der WM starb, war ein zufälliges Zeichen dafür.

Heute schaute Völler auch nach Siegen immer ein bisschen schuldbewusst drein. Gewonnen: ja; gut gespielt: leider nein. Auch Kahn, der lange als blonder, brutaler Klischeegermane galt, stammelte sich zum Unfassbaren: „Wenn man im Finale steht, will man auch Weltmeister werden.“ Darin war keine Spur von typisch deutscher Angeberei, es war zaghafte Annäherung an Banales. Wer spielt, will gewinnen. Auch der Kahn-Kult war nicht verbissen, sondern, sogar in Bild, ironisch gefärbt („Kahnsinn“). Kein hässlicher Deutscher nirgends, keine Förster-Brüder, die grätschen, bis der Arzt kommt, kein egomaner Effenberg-Stinkefinger. Das Gesicht der deutschen Elf war Miro Klose, der auch nach 5 Toren den Eindruck machte, auf der falschen Party gelandet zu sein.

Auch in Korea haben die Deutschen oft mies gespielt. Aber sie können es, anders als früher, nicht besser. Bei Ramelow und Ziege auf Tricks und Schönheit zu warten, das ist so aussichtslos wie von Westerwelle Weisheit zu verlangen. Völlers Elf hat einfach getan, was sie kann, pragmatisch und ziemlich undeutsch. Deshalb klingt auch das linke Klagelied über zu wenig Ästhetik und zu viel Athletik vorgestrig, wie eine Fixierung auf ausgewaschene Feindbilder.

In alledem spiegelt sich, dass Deutschland 2002, aller rot-grünen Hasenfüßigkeit zum Trotz, ein Albtraum für konservative Elitedenker geworden ist: ein Land, in dem die Debatten um Dosenpfand und Ökosteuer kreisen, in dem IT-Spezialisten aus Indien kommen und das Egalitäre tiefe Wurzeln geschlagen hat. Die Deutschen sind angekommen, wo sie hingehören: im Mittelmaß. Das ist bei Wirtschaft und Bildung so, und beim Fußball. Auch wenn sie diesmal mit Glück und Geschick bis ins Finale kamen – jeder weiß, dass sie gegen fast jeden verlieren können. Nur deshalb sind sie ja so weit gekommen.

Neu ist, dass die Deutschen dies ohne Hysterie ertragen. Das ist eine Art Normalisierung. Aber sie ähnelt nicht dem Gespenst eines vergangenheitsvergessenen nationalen Affekts, das viele Linke seit 1989 befürchten. Die Republik scheint eher im Mittelmaß ohne Wahn angekommen zu sein. STEFAN REINECKE