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Familienalbum einer Katastrophe

In SoHo war die Ausstellung mit Amateur- und Profifotografien zum Attentat auf das World Trade Center ein Dokument des Schreckens und Treffpunkt der verunsicherten Bevölkerung. Ab heute ist „Here is New York“ im Martin-Gropius-Bau zu sehen

Die Idee war ein Bilderpanorama, zu dem alle Augenzeugenbeitragen und dasGrass-Root-Qualität hat

von BRIGITTE WERNEBURG

Die farbigen und schwarzweißen Digitalprints hängen an längs der Wände und quer durch den Raum gespannten Drahtseilen wie Wäschestücke an der Leine. Anonym, ungerahmt, unbeschriftet und alle im gleichen Format von 30 x 40 cm. So wie jetzt im Martin-Gropius-Bau, so wurden die Fotografien auch zehn Tage nach den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, die ihr Thema sind, erstmals in der leer stehenden Agnès B. Boutique in SoHo präsentiert. 500 von rund 7.000 in Manhattan ausgestellten Fotos sind nun in Berlin zu sehen: die brennenden Türme natürlich, die fliehenden Menschen, Rettungsarbeiter und Feuerwehrleute, dazu die Suchanfragen und die Trauerbekundungen in den Straßen rund um den Ground zero. Eine Vielzahl von Fotos, die das Bekannte doch ganz anders zeigen als der Endlosloop der Fernsehbilder und die Bildstrecken der Nachrichtenmagazine und Zeitschriften.

Genau das war auch die Idee der vier Initiatoren der Schau, des Schriftstellers Michael Shulan, des Leiters der Fotoabteilung der School of Visual Arts, Charles Traub, der Kuratorin Alice Rose und des Mitglieds der Fotoagentur Magnum, Gilles Peres. Sie dachten an ein Archiv der Nachbarschaftshilfe; an ein Bilderpanorama, zu dem alle Augenzeugen beitragen und das Grass-Root-Qualität hat. Schließlich wurde die Attacke von mehr Menschen fotografisch und filmisch dokumentiert als jemals zuvor eine andere Katastrophe. Nachdem Peres zunächst seine Kollegen aufgefordert hatte, ihm Bilder zu überlassen, organisierten die vier das Ladenlokal in der Prince Street, nur 20 Blocks vom Ground zero entfernt. Sie beschafften die nötigen Computer, Drucker und fanden freiwillige Helfer, die die Besucher und die Leute generell aufforderten, ihre Fotografien vom 11. September bei „Here is New York“ einzureichen. Mindestens ein Foto pro Einsendung, so war die Zusage, werde öffentlich gezeigt. Die Schau kennt also keine individuellen Autoren und stellt die Schnappschüsse von Amateuren neben die Bilder der professionellen Fotografen. Dabei sind zwei Drittel der Aufnahmen Amateurbilder, und es ist fast unmöglich zu sagen, welche Bilder von den Profis und welche von den Amateuren stammen. So erklärt sich auch der Untertitel der Schau „Die Demokratie der Bilder“. Der eigentliche Titel, „Here is New York“, geht auf eine noch heute berühmte Reportage des Journalisten E. B. White zurück, die 1949 im New Yorker veröffentlicht wurde. (Es lohnt sich, den Nachdruck und Eliot Weinbergers Kommentar dazu in der aktuellen deutschen Ausgabe von Lettre International nachzulesen.)

In kürzester Zeit wurde der Laden in der Prince Street zum Sammelpunkt und Diskussionsort für die von den Terrorattacken betroffenen und geschockten New Yorker. Auch in dieser Hinsicht stimmt, was Michael Shulan am Mittwoch auf der Pressekonferenz über die Ausstellung sagte: „Sie handelt von Menschen und Emotionen“. Das „Familienalbum“, wie er das Fotoarchiv nennt, zu dem Polizisten, Geschäftsleute, Hausfrauen, Lehrer, Bauarbeiter und weltberühmte Fotografen beigetragen haben, ersetzt in der Stadt die bislang fehlende Gedenkstätte.

Selbstverständlich richtete die Gruppe eine Website ein, die teilweise über eine Million Besuche am Tag verzeichnet. 5.000 Bilder finden sich unter www.hereisnewyork.org, Abzüge können für 25 Dollar das Stück erworben werden. Das Geld – inzwischen sind 600.000 Dollar zusammengekommen – geht an den „Children’s Aid Society’s World Trade Center Fund“. Die 1853 gegründete Hilfsorganisation unterstützt damit die Kinder der nicht oder nur schlecht versicherten Arbeiter und Angestellten des WTC, wie Fahrstuhlführer, Boten oder Imbissverkäufer.

Interessanterweise war die „Children’s Aid Society“ frühzeitig mit dem Medium Fotografie verbunden. Schon der Pionier der fotografischen Sozialreportage, Lewis Hines, warb mit seinen Bildern für ihr Anliegen. Die Website kann natürlich den Besuch der lohnenden Ausstellung, die nun international tourt, nicht ersetzen. In Deutschland organisiert die Bundeszentrale für politische Bildung die Ausstellungsreise, und sie hatte die gute Idee, die Schau um einen Lesesaal mit Literatur zum 11. September sowie einem Online-Zugang zu ergänzen. Weitere Stationen nach Berlin, wo sie heute eröffnet, sind Dresden, Düsseldorf und Stuttgart.

Bis 7. Oktober, Mi–Mo 10–20 Uhr, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7; kommentierte Linkliste zum 11. September: www.politik-digital.de; im September erscheint bei Scalo eine 900 Seiten starke Dokumentation.

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