piwik no script img

Gipserne Realität

Live-Abdruck aus Pompeji: Die Ausstellung „Hautnah“ in der Kunsthalle diskutiert Authentizitätskonzepte

Ein nicht gerade glücklich dreinschauender Pygmäe begrüßt die Besucher im Souterrain der Hamburger Kunsthalle zu einer seltenen kulturgeschichtlichen Ausstellung. Die Gipsfigur macht den Anfang von knapp hundert Exponaten, die allesamt den Anspruch haben, hautnahe Realität über die Zeit zu retten.

Frau und Hund winden sich im über 2000 Jahre vergangenen Todeskampf: 1863 kam der italienische Archäologe Giuseppe Fiorelli auf die Idee, die Hohlräume in der Vulkanasche, die Pompeji begraben hatte, mit Gips auszugießen und so längst nicht mehr vorhandene Körper wiederzugewinnen. Die Abformung, die hier die Natur selbst vorgenommen hatte, war seit der Renaissance eine in Künstlerkreisen bekannte Methode, um möglichst natürliche Körperwiedergaben zu erhalten.

Jahrhundertelang wurden zur Erinnerung Totenmasken abgenommen, doch auch die Medizin begann sich für das gipserne Medium zu interessieren, auch wenn ein künstlerischer Anspruch die Nähe mindern musste: Die gehäutete Leiche eines gehenkten Schmugglers wurde 1785 in die Pose der antiken Statue des Sterbenden Galliers gesetzt und erst so in Gips verewigt.

Besonders im offiziell eher prüden 19. Jahrhundert befriedigte das Hilfsmittel aus den Ateliers ein breites Publikumsinteresse an sonst verborgenen Körperteilen und gewann zudem Aktualität in der Diskussion um den Naturalismus in der Kunst.

Welchen Realitätsanspruch hat ein Gipsabdruck? Die Diskussion des 19 Jahrhunderts sah deutliche Parallelen zur Fotografie: In beiden Medien manifestierte sich scheinbar direkt die Natur selbst. Und so, wie die Fotografie den Maler überflüssig zu machen schien, wirkte der Gipsabdruck gegen den Bildhauer. Es wurde einer der schlimmsten Vorwürfe, eine Figur nicht gestaltet, sondern abgegossen zu haben.

Der Wissenschaft waren zugleich beide Medien willkommenes Hilfsmittel bei ihrem Versuch, die Welt positivistisch zu erfassen. Heute, wo sich virtuelle Welten verselbständigen, scheint der Blick auf eine dreidimensionale Wiedergabe von Dingen und Menschen Halt zu bieten. Zugleich wird die immer nur fragmentarische Erfassung des angeblich Objektiven und der subjektive, künstlerische Ausdruck erkennbar, der die Originalabgüsse belebt. Hajo Schiff

Hautnah – Die Abformung des Lebens im 19. Jahrhundert, Hamburger Kunsthalle, bis 1. September. Katalog: Euro 8,80

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen