: Zu Gast im eigenen Interieur
Die Angst vor der Leere oder Gibt es die perfekte Einrichtung? Nein! Dafür allerdings allerlei Provisorien, wie den Zeitungsberg auf der Heizung, die das Wohnen so liebenswert machen. Und Bilder an die Wand zu hängen ist sowieso bourgeois
von MICHAEL KASISKE
Warum klemmt der Schwamm zum Reinigen des Waschbeckens am Abflussrohr? Mutter nörgelt: „Bei uns wurden die Putzutensilien für das Bad woanders gelagert.“ Wo habe ich das bloß abgeschaut? Oder ist dieser Aufbewahrungsort einfach nur pragmatisch gewählt? Vor dem inneren Auge lasse ich frühere Wohnungen Revue passieren. Und schaue noch einmal unter das Becken: Diese Windung des Geruchsverschlusses ist wie gemacht für das blaue Weichteil, das den blitzenden Chrom kontrastiert. Eben ein Teil des Habitus, der in fast 20 Jahren Wohnen außerhalb des Elternhauses mitunter nicht mehr zu erklärende Formen angenommen hat.
Im privaten Refugium drücken sich Gewohnheiten und Vorlieben aus. Wobei diese in meinen Augen in manchen Wohnungen unverständliche Züge annehmen. Wenn etwa der Raum mit einer Schrankwand erschlagen wird. Oder alles peinlichst aufgeräumt und gereinigt ist, nichts mal eben einfach abgelegt wird. Zuweilen wird mir auch ganz blümerant im Angesicht von Blumengestecken, Ziertellern, Vasen und Ähnlichem, das sich auf jedes freie Plätzchen drängt. Ob sich da jemand nicht des ganzen Schnickschnacks erwehren konnte, der sich beständig auf einen zuwälzt?
In der Erzählung „Ich finde mich zurecht“ von Wolfgang Hildesheimer wird der Protagonist Robert nach der Schenkung von zwei Ölgemälden mit Gebirgslandschaften, die er seinem Onkel zuliebe aufhängt, von seinen Freunden nolens volens in die Rolle des Liebhabers von Kitsch und Tand gedrängt. Pakete mit Kuckucksuhren, Kakteenregalen, Spitzendecken folgen. Irgendwann fügt sich Robert der Bestimmung, ordnet die ihm einst so verhassten Dinge, bis sie ihn schließlich übermannen.
Diese „Lieblose Legende“ – so der Titel von Hildesheimers Buch – scheint Wirklichkeit zu sein. Der nicht selten zu beobachtende Umgang mit Dingen, zu denen ein persönlicher Bezug fehlt, ist wohl Folge der Verunsicherung in leeren Räumen und des komplementären Wunsches, sich eine Geschichte zuzulegen.
Da erscheinen Bilder nicht von ungefähr als passender Behelf. Beinahe einem Reflex gleich schlage ich mir eher auf die Finger als irgendwo einen Nagel in die Wand. Bei mir stehen die Bilder ewig auf dem Fußboden oder in den Regalen. Aufgehängte Bilder sind bourgeois. Das hört sich platt an, doch bin ich aufgewachsen mit Bildern über Sofas und Schreibtischen, den berüchtigten „Alpenglühen“-Schinken oder den beliebten Spitzweg-Reproduktionen; alternativ gab es bei Lehrerfreunden Grafiken, seinerzeit vorzugsweise von Paul Wunderlich oder Bruno Bruni, die in individueller Rahmung ganze Wände bedeckten. Bei aller Lässigkeit war das Repräsentationsgehabe augenscheinlich. Mit Martha Huths Bildern von „Berliner Lebenswelten“ der 1920er-Jahre eröffnete sich eine Verbindung zwischen meiner Verweigerung und der Kunstmoderne: Ein Foto zeigt zeitgenössische Gemälde von Kandinsky, Klee und anderen wie beiläufig nebeneinander gereiht auf einem Regal stehend.
Gebrauchsgegenstände erobern sich ihre Standorte da schneller: Die Vasen stehen bei mir auf einem Fensterbrett, die Aschenbecher auf einem anderen. Die Zeitungen liegen nicht mehr auf dem Fußboden wie in der letzten Wohnung, sondern auf der Heizung in der Küche.
Die Küchenutensilien drängen sich auf einem zusammengeschobenen Regal: Das Bestecksammelsurium befindet sich in der alten Schale, die aus dem Nachlass einer entfernten Tante stammt, die orange Waage aus den 1970er-Jahren und die große weiße Suppenterrine wurden mal bei ebay ersteigert; wie die Spiraleierbecher zu mir kamen, weiß ich nicht mehr genau; die große, rote Tasse war jedenfalls in der letzten Wohngemeinschaft zum Lieblingsgefäß für Milchkaffee erkoren worden, weshalb ich sie beim Auszug gegen eine Kaffeemaschine einlösen musste, um sie mitnehmen zu dürfen … So lässt sich zu jedem Gegenstand eine Geschichte erzählen – und sei es lediglich über den Anlass –, warum und wie er den Weg in diesen Haushalt fand.
Gibt es perfekte Einrichtungen? In jedem Fall gibt es immer einige Provisorien. Mangels geeigneter Möbel oder erforderlichen Geldes ist meine Kleidung in einem Blechregal hinter der Schlafzimmertür gelagert. Gern hätte ich etwas, was den gelegentlichen Umzügen mehr entgegenkommt als etwa die sich ständig vergrößernde Büchermenge, also einen fahr- oder faltbaren Schrank. Tja, und die belletristische Literatur lagert derweil als Stapel auf der Erde. Da habe ich noch keine Vorstellung für ein Regal und vor allem für den geeigneten Ort in der Wohnung.
Geschichte wird gemacht, Geschichte kann nicht gekauft werden. Vor einiger Zeit stöhnte der Innenarchitekt eines großen Möbelgeschäftes über gut verdienende Leute, die sich ihre Wohnungen fast bis ins Detail wie einen Showroom einrichten lassen. Man kennt die Situationen, wo die Hausherren und -damen wie Gäste im eigenen Interieur wirken (und sich dann zum Ausgleich heimlich einen authentischen Fluchtpunkt im Keller oder Garten einrichten).
Ich glaube, der Schwamm ist genauso unter das Waschbecken platziert worden, wie sich in der Nische an der Eingangstür auf einmal die leeren Pfandflaschen sammelten. Solche Orte, die für eine Funktion ideal geeignet zu sein scheinen, werden in jeder Wohnung wieder „gefunden“. Für mich steht die nächste Etappe vielleicht bald bevor. Freunde möchten ihre Wohnung am Görlitzer Bahnhof in gute Hände geben. Einen Ort für die Literatur wüsste ich da wenigstens schon.
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