: In den Malaisen konservierte Jugend
Nach dem „Muschelessen“ ist vor dem „Muschelessen“: Hanna Rudolph inszeniert mit „Spätlese“ beim Festival „Die Wüste lebt“ eine Geschichte nach der Entthronung des tyrannischen Familienoberhaupts
Wieder ist es die Familie, auf die alles unentrinnbar zuläuft: In Birgit Vanderbekes Roman Das Muschelessen emanzipiert sich eine Familie von ihrem tyrannischen Oberhaupt. Während einiger Stunden Wartezeit vor einem Berg Muscheln wird der Patriarch entthront und kehrt aus ungeklärten Gründen gar nicht erst in den Roman zurück. Mit Spätlese inszenierte Hanna Rudolph jetzt die Fortsetzung des Romans. Bei ihr wohnen die beiden Kinder, Monika und Thomas, zusammen. Die Mutter ist wahrscheinlich im Knast, der Vater tot: Den Schlag mit der Spätleseflasche hat er nicht verkraftet.
Dabei sei er selber immer ein unheimlich schlagfertiger Vater gewesen, erzählt Monika. Eben in allem auf widerliche Weise besser und stärker. Doch nun sind nur noch die Geschwister übrig und schwelgen in unangenehmen Erinnerungen. Hanna Rudolph setzt sie in das konservierte Wohnzimmer ihrer Kindheit und Jugend: Ein riesiges Sofa mit Plastikbezug, so tief, dass auch Erwachsene noch mit den Beinen baumeln, zwei Sessel und ein Schrank. Ein neues Zuhause ist das nicht, nur die Machtverhältnisse haben sich geringfügig verändert. Die Familienaufstellung kann beginnen.
Tini Prüfert als Monika scheint die Oberhand zu haben. Lasziv räkelt sie sich auf den Sitzmöbeln, Schlüpferansicht inklusive. Fehlen nur noch die Vampirzähne. Gerade weil Papa stets der Beste war, erahnt man von Anfang an einen begangenen Missbrauch. Monika redet ihren Bruder zwar an die Wand und versucht ihre Version der heilen Familie durchzudrücken. Stefan Düe spielt Thomas im Gegenzug introvertiert-verstockt, verpasst aber auch keine Gelegenheit zum Austeilen.
In Rudolphs spannender Inszenierung mit zwei großartig aufeinander abgestimmten Schauspielern sind die Geschwister durch ihre Vergangenheit ausweglos aneinander gekettet. Mal machen sie sich gemeinsam wie einst der Vater über die Mutter lustig, mal erzählen sie in heiterem Tonfall von seinen Schikanen ihnen selbst gegenüber. Dem Publikum bleiben die Lacher allerdings im Halse stecken, je mehr aus Monikas und Thomas‘ Leben bekannt wird. Nach der Tracht Prügel im verhassten Wohnzimmer wollte die vermittelnde Mutter oft, dass die Kinder zum Entschuldigen noch einmal hineingehen sollten. Dass den beiden ein Take That-Hit über die Runden geholfen hat, tröstet da wenig: „Whatever I said, whatever I did, I didn‘t mean it, I just want you back for good.“ Liv Heidbüchel
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