: Stabile Selbstzerstörung
Japan verbraucht jedes Jahr 30-mal so viel Beton wie die USA. Doch nicht die Verwestlichung führt zum Verlust der Landschaft, sondern der Versuch, sich gegen ausländische Einflüsse abzuschirmen
von MARTIN EBNER
Warum ist Japan so hässlich, obwohl es doch für elegantes Design und schöne Gärten berühmt ist? Dass die Hochglanzbilder der Fremdenverkehrsprospekte von der Wirklichkeit abweichen, soll auch anderswo vorkommen. Während aber zum Beispiel das Ruhrgebiet nie den Anspruch erhoben hat, ein Vorbild hinsichtlich Naturliebe und Ästhetik zu sein, werden Japanbesucher mit Naturpropaganda bombardiert: Werbebroschüren preisen Restaurants mit Namen wie „Ahornblatt“ oder „Herbstlaub“, Hotels wie „Glühwürmchen“ oder „Bambuswald“ und die Bank „Kirschblüte“ an, daneben sind Fotos von bizarren Felsen an der Meeresküste zu sehen, dazu Bergquellen, die über bemooste Steine sprudeln.
Nicht, dass man gleich hinter dem bombastischen, seltsam menschenleeren Kansai International Airport in Osaka Reisfelder und einen rauschenden Bergbach erwartet würde. Doch nach über einer Stunde rast der Flughafenexpress noch immer an Betonklötzen vorbei, denen man nicht ansieht, ob es Mietshäuser, Fabriken, Schulen, Kraftwerke, Einkaufszentren oder Müllverbrennungsanlagen sind. Unterbrochen wird das Grau nur von Werbeplakaten, einem Dschungel von Stromleitungen, Autobahnzubringern und den Neonreklamen der allgegenwärtigen Pachinko-Spielhöllen.
Zuweilen gibt eine Brücke den Blick frei – auf ein bis zum Horizont komplett zubetoniertes Flussbett. Die nächsten acht Stunden könnte man so weiterfahren: Nach Osaka kommt eine Betonwüste, die genauso scheußlich ist und Nagoya heißt, irgendwann ihren Namen in Yokohama ändert, um schließlich nahtlos in Tokio überzugehen.
In Richtung Westen das gleiche Elend bis Hiroshima: ein 800 Kilometer langer Häuserbrei. An den Zugfenstern müssten Warnschilder angebracht werden: „Hinausschauen kann zu Depressionen führen.“ Als ob man zu lebenslänglich Spreitenbach verurteilt wäre. Steigt man in Kioto aus, kann man im Reiseführer lesen, dass die Amerikaner die Stadt mit den „beeindruckenden Tempeln“ und den „alten Holzhäusern“ 1945 nicht bombardierten, weil sie zu schön sei und irgendwie der ganzen Menschheit gehöre. Die Generäle hätten sich ihre sentimentale Anwandlung sparen können. Beton, Plastik und Plexiglas wirken nicht so schnell wie eine Atombombe, aber fast so gründlich: Außer Tempeln und ein paar Gärten ist vom alten Kioto so gut wie nichts mehr übrig.
Die ehrwürdige Kaiserstadt ist nicht in den fortschrittsgläubigen 1960er-Jahren zerstört worden, sondern in den letzten beiden Jahrzehnten, als sich der Rest der Welt schon längst Stadtplanungs- und Denkmalschutzgesetze zugelegt hatte. Nach Angaben von Bürgerinitiativen sind in Kioto seit 1980 über 50.000 alte Holzhäuser verschwunden. Im Stadtmuseum, einem klobigen Betonhochhaus, in dem sich eine Hand voll Exponate verlieren, wurde dafür im neonbeleuchteten Erdgeschoss eine traditionelle Ladenzeile nachgebaut. Der Zementfußboden lässt zwar keine urige Atmosphäre aufkommen, ist aber pflegeleicht. Die Moderne hat auch Vorteile.
Am Rand von Kioto gibt es noch schöne Ecken. Sofern man über die Hochspannungsleitungen, die alle Bergwälder durchschneiden, hinwegsieht – was aber nach ein paar Tagen in Japan ganz automatisch geht. Der Blick von der kaiserlichen Villa Shugakuin soll auf „seit dem 17. Jahrhundert unveränderte Natur“ fallen, sagt die Werbung. Tatsächlich entdeckt man auf den zweiten Blick einen völlig zubetonierten Berg, wobei die Verbauung ausnahmsweise begrünt oder grün angemalt wurde.
Und wenn man aus dem Industriegürtel flüchtet? Der Bummelzug zur Nordküste ist so langsam, dass der Müll links und rechts der Strecke gut zu erkennen ist: rostende Kühlschränke, alte Autos, Plastiktüten. Wohin sollte man den Abfall auch sonst werfen als in eine Landschaft, deren „Berge, Felder und Bäume seit Urzeiten heilig und den Göttern geweiht sind“? Die Wälder bieten keinen Trost: Der ehemalige Mischwald wurde fast im ganzen Land durch öde Zedernplantagen ersetzt. Was prompt zu Bodenerosion führt, die mit massiven Betonbefestigungen an den Berghängen bekämpft wird.
In Amanohashidate findet sich eine der „drei schönsten Ansichten Japans“, eine kieferbestandenen Landzunge, die eine Meeresbucht abtrennt. Wenn man sich beim Aussichtspunkt mit dem Rücken zum Meer stellt, nach vorn beugt und zwischen den Beinen durchschaut, soll man eine Leiter zum Himmel sehen. Zu sehen ist aber vor allem eine Bergbahn, die auf dem gegenüberliegenden Berg zu einem Freizeitpark mit Riesenrad fährt, sowie am Ufer die üblichen, lieblos hingepfuschten Neubauten. Und in Richtung einiger Inseln im Meer ein riesiges Unding, das ein Zementwerk sein könnte, vielleicht auch ein Hotel.
Je länger man sich Japan anschaut, desto mehr überzeugen die Bücher von Alex Kerr. Alex Kerr ist ein Amerikaner, der seit 30 Jahren als Kunsthändler und Dolmetscher für Immobilienfirmen bei Kioto wohnt. Seine Mission: Erklären, warum Japan so hässlich ist. Seine These: Nicht Verwestlichung führe zum Verlust der traditionellen Schönheit, sondern paradoxerweise der Versuch, sich gegen ausländische Einflüsse abzuschirmen und um jeden Preis Veränderungen zu vermeiden. Während der Rest der Welt sich in ein postindustrielles Zeitalter aufmache, zunehmend von Dienstleistungen lebe und an Umweltschutz denke, sei Japan in den 1960er-Jahren stecken geblieben.
Vor allem widmet sich Kerr der im Gegensatz zur Exportindustrie im Ausland kaum bekannten Bauindustrie. Ganze 10 Prozent der japanischen Erwerbstätigen würden dort arbeiten und pro Jahr 30-mal mehr Beton verbrauchen als die – viel größeren – USA. Vor allem auf dem Land werden die treuen Wähler der Regierungspartei mit Bauprojekten beschäftigt. Die Folge: Von 113 großen Flüssen sind bereits 100 komplett eingemauert, von der Meeresküste mehr als die Hälfte.
Für die meisten der mit Schulden finanzierten Bauten, die Japan verhässlichen, gibt es keinen echten Bedarf: riesige Brücken zu kaum bewohnten Inseln, gigantische Flughäfen, zu denen sich kaum Flugzeuge verirren, monumentale Museen, die nichts auszustellen haben, überdimensionierte Mehrzweckhallen noch im kleinsten Dorf. Der Hauptgrund für den Baurausch, der 40 Prozent der Staatsausgaben auffrisst, ist laut Kerr, dass von jedem Auftrag ein bis zwei Prozent des Budgets – steuerlich anerkannt – in die Taschen der zuständigen Politiker wandern. Die Bürokraten würden erst recht profitieren, sei es als Angestellte von Bauagenturen, sei es, weil sie die nicht öffentlich ausgeschriebenen Aufträge Firmen zuschanzen, an denen sie beteiligt sind oder bei denen sie nach ihrer Pensionierung angestellt werden. Die Bürokratie werde nicht kontrolliert, daher sei Japan ein „Land ohne Bremsen“. Wenn die Beamten einmal einen Weg eingeschlagen haben, gebe es nichts, was sie aufhalten könne. Noch so viele Unterschriftenaktionen könnten etwa die Verschandelung Kiotos nicht verhindern. Allerdings hätten japanische Firmen nie Altbauten-Know-how entwickelt, und ausländische Unternehmen würden nicht zugelassen. Daher hätten auch private Hausbesitzer nur die Wahl zwischen „alt und schäbig“ oder „neu und steril“.
Da die Bürger durch überteuerte Landpreise zum Sparen gezwungen würden, habe die Bürokratie auf so viel Kapital Zugriff, dass sie auch auf ökonomische Vernunft keine Rücksicht nehmen müsse. Beispielsweise wird seit 1980 der Nagara-Staudamm gebaut, für 1,5 Trillionen Yen eines der teuersten Bauprojekte der Welt, das den letzten naturbelassenen Fluss des Landes begräbt – obwohl, so Kerr, die zu Grunde liegende Prognose zum Wasserverbrauch von 1950 stamme und den heutigen Bedarf um 80 Prozent übertreffe.
Wie sich dieses System entwickelt hat, schildert Kerr am Beispiel der Strommasten: „Japan ist das einzige entwickelte Land, das Kabel nicht unterirdisch verlegt.“ Nach dem Krieg hätten das die Planbürokraten für überflüssigen Luxus gehalten, da alles Geld für die Industrie gebraucht wurde. Um 1965 sei diese Politik dann „eingefroren“: Da Kabel nie verlegt wurden, habe das High-Tech-Land dafür keine Technologien entwickelt, sondern nur Rechtfertigungen, etwa dass Japan einen „besonderen Boden“ habe oder die „Erdbebengefahr“ den Kabelsalat nötig mache. Obwohl gerade bei Erdbeben umknickende Masten und herabhängende Stromleitungen gefährlich sind. „Das dritte Stadium ist Abhängigkeit. Die Produktion von Stahl- und Betonmasten ist ein profitables Geschäft für Kartelle geworden.“
Der Grund für die Misere sei aber nicht nur die Gier der Beamten, sondern auch die traditionelle Kultur. Hinter der Betoniererei stecke auch der alte Wunsch nach „totaler Kontrolle“: Zwischen der Vergewaltigung eines Bonsais und der Vergewaltigung einer Landschaft gebe es keinen prinzipiellen Unterschied. Hinter der „geschmacklosen“ Verwendung von modernen Baustoffen stecke ebenfalls Tradition: „Japanische Architekten nehmen die Materialien, die sie vorfinden, und gebrauchen sie ohne Bearbeitung“ – ob Bambus oder rostiges Wellblech.
Diese Selbstzerstörung könnte durch Ausländer gemildert werden, meint Kerr, der selbst einen Strohdachbauernhof restauriert hat. Japan tue jedoch alles, um Einwanderung zu verhindern. Trotz seiner ursprünglich dramatischen Landschaft und zahlreicher Sehenswürdigkeiten habe sich das Land auch bewusst gegen Tourismus entschieden: „Japans Bürokraten mögen keine Mobilität. Ihre Strukturen hängen davon ab, dass die Grenzen geschlossen bleiben und Menschen, Ideen und Geld sich nicht allzu leicht bewegen.“
Beton ist stabil. Wie alles andere wird auch er von den Japanern immer weiter verbessert und in Zukunft sicher einmal zur Hauptsehenswürdigkeit ihres Landes werden. Am besten gefallen schon heute die Betonpfosten mit brauner Baumringbemalung und die Klötze in Schildkrötenform, die zur Meeresküstenbefestigung der neuesten Generation gehören. Sie sehen so natürlich aus.
Alex Kerr: „Dogs and Demons. Tales from the Dark Side of Japan“. Penguin 2001, 432 Seiten, 15,43 € „Lost Japan“. Lonely Planet 2001, 270 Seiten, 10,28 €ĽFotodokumentation einer Bürgerninitiative gegen die Zerstörung der Altstadt Kiotos: http://www.mitate.org/beautiful/eindex.html
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