: „Bis ich mal tot bin, das dauert“
Interview MANFRED KRIENER
taz: Wann haben Sie sich infiziert?
Helmut Ahrens: Den ersten Test machte ich 1987, weil ich mit meinem Freund auf Kondome verzichten wollte. Also bin ich zum Test, der sofort positiv war, der Immunstatus war schon stark geschwächt. Ich hatte bereits Aids. Ich muss mich Anfang der Achtzigerjahre infiziert haben. Subjektiv ging es mir noch gut, aber ich hatte Angst.
Haben Sie heute, nach zwanzig Jahren, noch Angst vor dem Virus?
Ich habe viel Respekt vor ihm. Das ändert sich ständig. Am Anfang dominiert die Angst, sich zu infizieren. Wenn man sich dann infiziert hat, will man erst mal wissen, von wem. Das ist ein starkes Bedürfnis: die Hoffnung, es ginge einem besser, wenn man weiß, von wem. Man sucht wohl einen Adressaten, mit dem man über alles sprechen kann.
Mit meinem Freund war das schwierig: Er war negativ, ich war positiv, und es gab viele Tränen. Das ist auch heute für viele ein Riesenproblem, die glauben, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Die wollen dann den ganzen Menschen, die ganze Erfüllung, ohne ein Stück Latex dazwischen.
Konnten Sie damals noch arbeiten?
Ich hab’s versucht. Aber mein Lebensentwurf krachte zusammen. Der berufliche Aufstieg, der Wunsch, eine Rolle zu spielen, wichtig zu werden, Ziele zu verwirklichen. Der berufliche Erfolg als Soziologe in der Drogen- und HIV-Prävention – das brach alles weg. Dann kam die Frage: Wie viele Jahre hast du noch? Das war neu für jemand, der sich für unverletztlich hielt, der nie an den Tod dachte. Meine Antwort: Im Jahr 2000 bin ich tot. Alles andere war unrealistisch, weil wir nun mal die Frühinfizierten waren. Um uns herum starben alle weg.
Dann ging es ganz schnell. Mitte der Neunzigerjahre berichteten Kollegen, Sie lägen im Sterben. Man hat nur noch auf die Todesanzeige gewartet.
Ja, es war dramatisch. Am 22. September 1992 wachte ich nachts auf, hatte Fieber und dicke Beine. Ich bekam das aidstypische Kaposisarkom, eine spezielle Krebserkrankung. Es wurde immer schlimmer, ich bekam Kaposiflecken, und der Krebs breitete sich aus. 1994 begannen die Bestrahlungen. Der Krebs wuchs auch im Mund – wie ein Blumenkohl. Ich konnte nicht mehr richtig sprechen. Dann fielen die Zähne aus. Der Immunstatus purzelte in den Keller.
Trotzdem haben Sie noch gearbeitet.
Die Arbeit hielt mich am Leben. Aber ich hatte schwere Zusammenbrüche. Du sitzt im ICE in Magdeburg, und plötzlich kriegst du Fieberschübe, Schüttelfrost, deine Beine werden dick. Niemand kann dir helfen. Ich habe mich in der ersten Klasse einfach auf den Boden gelegt und vor mich hin gezittert. Ein paar Stationen weiter, in Mannheim, wollten sie mich aus dem Zug werfen.
Warum haben Sie damals keine antiviralen Medikamente genommen?
Es gab nur AZT (Retrovir), das wollte ich nicht. Ich hatte das Konzept: Der Körper soll erst mal allein klarkommen, man fängt nicht gleich mit Tabletten an. Und ich hatte Angst vor Resistenzen und Nebenwirkungen. Ich habe auf bessere Mittel gewartet. Es musste irgendwann neue Pillen geben, die Pharmaindustrie wollte doch Geld verdienen.
Wie waren Ihre Kontakte zu anderen Kranken?
In meiner Wohnung saßen wir ständig mit anderen Betroffenen, es ging immer um Leben und Tod. Viele haben sich umgebracht. Ich habe gute Freunde im Krankenhaus besucht, habe sie einen schrecklichen Tod sterben sehen. Es war schlimm. Ich sah mich ständig im Sterbebett der anderen liegen. Ich habe bei der Aidshilfe mal die Fotos im Eingangsbereich gezählt. 32 Menschen, die ich kannte, sind in dieser Zeit gestorben.
Und Ihre eigene Infektion?
Ich hatte noch sieben Helferzellen. Meine Beine waren offen, ich begann von unten zu verfaulen. Es stank bestialisch, ich landete im Rollstuhl, schließlich im Bett. Es war schwierig, einen Arzt zu finden, der mich behandeln wollte. Das war 1997.
Da war die neue Kombinationstherapie schon zugelassen.
Sie hat bei mir nichts gebracht, weil ich die Pillen nicht regelmäßig genommen habe. Das war mein alter Trip: so wenig Tabletten wie möglich. Meine innere Psychologie kam dem Verfall meines Körpers einfach nicht hinterher.
Wenn man gegen den Tod kämpft, nimmt man doch alles …
Nein! Ich wollte zuerst die Studien sehen: Risiken, Nebenwirkungen, den neuesten Forschungsstand. Trotzdem habe ich dann unterschrieben: Chemotherapie, Bestrahlungen, antivirale Tabletten und die Therapie gegen Pilze und bakterielle Infektionen, die ich am ganzen Körper hatte. Ich habe gelernt, was ich alles aushalten kann: als Pflegefall neun Monate im Bett zu liegen und nur die Hände bewegen zu können. Mein Singlekonzept war längst kollabiert. Ich brauchte Halt, Unterstützung, Pflege, Zuwendung von Eltern, Freunden, Verwandten. Meine Tochter fuhr mich ins Krankenhaus. Ich musste ihr versprechen, die Pillen einzunehmen – lebenslänglich. Ich habe es uns beiden versprochen. Es war ungeheuer wichtig, dass ich einen Arzt fand, der sich traute, mich zu berühren, meine verfaulten Beine anzufassen. Der Arzt meinte: Da ist noch Leben drin, aber es kann schnell zu Ende sein.
Haben Sie an Ihr Überleben geglaubt?
Eines wusste ich: Bis ich mal tot bin, das dauert verdammt lange. Obwohl ich gleichzeitig das schreiende Elend war. Ich habe mich an die schönen Situationen in meinem Leben geklammert, an meine Kindheit, an bestimmte Gerüche, Bäume, Sträucher, Tiere. Daraus habe ich Energie gezogen. Und ich habe chinesische und afrikanische Folklore gehört. Es war der Versuch, meine innere Erlebniswelt zu pflegen. Ich habe um jeden Quadratzentimeter Leben gekämpft, alles andere war mir egal. Da wirst du auch brutal. Als neben mir im Krankenzimmer einer starb, rief ich die Schwester, damit sie den rausbringt.
Irgendwann muss die Kombitherapie geholfen haben.
Es war lange ungewiss, weil meine Erkrankung so weit fortgeschritten war. Es war unklar, ob die harten Medikamente nicht das Gegenteil bewirken. Ich habe die Pillen oft ausgekotzt, habe Nierenkoliken bekommen. Aber irgendwann, das war 1998, ging es langsam besser. Der Krebs fiel von mir ab. Ich kann heute allen frisch Infizierten nur empfehlen, mit den Ärzten nicht lange zu verhandeln. Beginnt man mit Aidsmedikamenten, muss man sie brav nehmen.
Sie wurden aus der Klinik entlassen, plötzlich stand ein großer Berg Leben vor Ihnen.
Ich musste wieder laufen lernen, wie ein Kind. Dann lief der Patient tatsächlich, alle haben sich gefreut: Guck mal, der Helmut. Trotzdem habe ich oft „vergessen“, die Tabletten zu nehmen. Die Sehnsucht nach Normalität ist bis heute nicht verschwunden. Da sind zwei Dinge: Ich muss ewig Tabletten schlucken. Und ich kann zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben ungezwungen Sex haben. Auch als ich eine infizierte Partnerin hatte, wurde das nicht besser, weil ich mir ständig von ihr Pilze holte.
Was war mit Ihrem Beruf?
Der soziale Abstieg war gewaltig. Radikaler Anerkennungsverlust, ein bedauerndes Lächeln von allen Seiten und kein Job. Der Mann ist weg vom Fenster! An meiner alten Arbeitsstelle wurde einem Anrufer gesagt: Der Ahrens ist schon lange tot. Es gab natürlich Anteilnahme, aber ich habe wahnsinnig gelitten.
Wovon leben Sie heute?
Materiell war und bin ich am Boden. Das Gesparte ist aufgezehrt, weil ich natürlich auch Alternativmedizin gemacht habe, bis hin zur Geistheilerin. Jetzt lebe ich als zu hundert Prozent Erwerbsunfähiger und Schwerbehinderter mit meiner Rente, kaufe bei Lidl und Aldi ein und habe trotzdem keinen Cent. Alle Versuche, zurück ins Berufsleben zu kommen, sind gescheitert. Ich werde 52, da hast du keine Chance. Einen wie mich einzustellen ist ein Risiko, auch wenn ich mich jetzt sehr gut fühle.
Es gab immer wieder Rückschläge. Erst seit einem Jahr bin ich stabil, die Energie ist wieder da. Mein Problem heißt jetzt: Wie komme ich aus der Schublade des Frührentners raus? Immerhin habe ich gelernt, von anderen ohne Scham Geld anzunehmen. Und ich studiere wieder. Natürlich habe ich immer noch Angst – das Virus sitzt eben auch psychisch in meinem Kopf. Ich kann mir das nicht schönreden. Ich habe eine unheilbare Krankheit. Ohne Tabletten würde ich nach sechs Wochen hilfsbedürftig im Bett liegen. Ich bin ein lebendes Chemiewerk. Aber ich bin noch mal davongekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen