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Letzte Vorlesung mit Bundeskanzler

Oskar Negt, ab heute emeritierter Professor für Soziologie, warb zum Abschied für Gerhard Schröders Wiederwahl

Er sei überwältigt „von der Zahl und der Zusammensetzung des Auditoriums“, sagte der 67-jährige Oskar Negt am Mittwochabend im überfüllten Großen Hörsaal der Universität Hannover zu Beginn seiner Abschiedsvorlesung. Der Vordenker der undogmatischen Linken und Soziologe in der Tradition der kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beendete nach 31 Jahren seine offizielle Lehrtätigkeit mit einem Vortag über „Sein und Sollen – Ein Epochengespräch zwischen Marx und Kant“. Im Auditorium saßen neben Kollegen, heutigen und einstigen Studenten auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier.

Negt, der einst Vorsitzender des Frankfurter Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) war und 1961 aus der SPD ausgeschlossen wurde, nutzte seine Vorlesung auch, um erneut für den Kanzler zu werben. Schon zur Wahl 1998 hatte er in seinem kleinen Buch „Warum SPD?“ eine Regierung Schröder als „nachhaltigen Macht- und Politikwechsel“ empfohlen. Nun hofft der Soziologe, auch nach der nächsten Wahl nicht nur Freund Schröders, sondern auch Berater des Bundeskanzlers bleiben zu können. Der SPD-Politiker habe einen gewissen Respekt für unabhängiges Denken, Ratschläge würden bei ihm „dann doch auf fruchtbaren Boden fallen“.

Das SPD-Parteibuch wurde dem Soziologen nach eigenem Bekunden in die Wiege gelegt. 1934 in Ostpreußen als Sohn eines sozialdemokratischen Bauern geboren, trat Negt bereits 1951 „dem Vater zuliebe“ in die SPD ein. Dass er nach Ende der Außerparlamentarischen Opposition (APO) nicht zu den Grünen, sondern zurück zur SPD fand, hat auch mit Erfahrungen in Frankfurt zu tun, wo er 1962 bei Adorno promovierte und später bei Jürgen Habermas assistierte. Als die APO-Anführer in der Mainmetropole, wie etwa der Außenminister, in die Betriebe gingen, um die Arbeiter zu agitieren, hielt Negt dies angesichts eigener Erfahrungen in Gewerkschaft und Arbeiterbildung für aussichtslos. Stattdessen wurde er in den 70er-Jahren der Vordenker des Sozialistischen Büros (SB). Dieser Verbund undogmatischer Linker sollte sich nicht nach Köpfen, sondern im Sinne des Negt’schen Diktums nach Intereressen organisieren.

Die letzte Vorlesung zeigte jenen professoralen Negt, an den sich Altstudenten gut erinnern: viel klassische Bildung gespickt mit Anekdoten, Selbstdarstellung mit rollendem R und Unterhaltungswert – am Ende ein für akademische Verhältnisse tosender Beifall. Der Soziologe verlangte ein „Bürgerrecht für Marx“ in der Gesellschaftstheorie, schließlich funktioniere durch das Bröckeln sozialstaatlicher Bindungen das Kapital erstmals so, wie Marx es beschrieben habe. Die Linken müssten nach dem Zerfall des Ostblocks „wieder von vorn beginnen“. Auch jene, die immer gesagt hätten: „Das ist kein Sozialismus“, hätten sich noch abgrenzend auf die Sowjetunion bezogen. Zuletzt verriet Negt, seinen ersten Kant-Vortrag habe er bereits in der 11. Klasse halten dürfen. Das Referat geriet so gut, dass ihm der Mathelehrer „immer statt der verdienten Fünf eine Vier gab“ und so dem späteren Professor zum Abi verhalf. Die Matheschwäche erklärt vieles: muss der Leser in Negts anregenden Büchern den roten Faden doch oft suchen. JÜRGEN VOGES

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