: Der Klang des Friedens
1942 entdeckten deutsche Soldaten in einer russischen Stadt eine Glocke aus Lübeck. 60 Jahre später ist sie Anlass für eine Reise Lübecker Schüler nach Russland: Die lange Geschichte einer Versöhnung
Von WOLFGANG FABIAN
Staraja Russa, 80 Kilometer südlich von Novgorod, im Herbst 1942: In der Stadt am Ilmensee tobt der erbitterte Häuserkampf zwischen Deutschen und Russen. Soldaten der Wehrmacht verschanzen sich in der Kirche Stankt Mina. Als sie in den ungenutzten Glockenturm kommen, trauen sie ihren Augen nicht: In der Ecke liegt eine Glocke mit der Inschrift: „Albert Benning me fecit Lubeca anno 1672“. Eine Glocke aus Lübeck! Was die Soldaten damals nicht ahnen: 60 Jahre später sollte diese Glocke Anlass sein für eine Reise Lübecker Schüler nach Staraja Russa – diesmal im Zeichen der Völkerverständigung.
Die Glocke wurde 1672 von dem international renommierten Glocken- und Stückgießer Albert Benning aus Bronze gegossen und nach Staraja Russa – zu deutsch „alte russische Stadt“ – verkauft. Dort erklang sie vier Jahrhunderte in der Stankt Mina, bis die Kirche nach den Wirren der russischen Revolution geschlossen wurde. Die Glocke wurde abgehängt und stand seitdem ungenutzt in jenem Glockenturm, in dem sie von den Soldaten gefunden wird.
Und wie der Zufall es wollte, gehören eben jene Soldaten zu einer schleswig-holsteinischen Infanterie Division, die in Lübeck stationiert ist. Die Hansestadt ist im Frühjahr desselben Jahres als eine der ersten deutschen Städte von den Briten bombardiert worden. Große Teile der Altstadt, darunter die fünf Großkirchen wurden zerstört – für viele Deutsche ein Schock. Auch die Soldaten an der Ostfront in Staraja Russa haben davon erfahren.
Deshalb kommt einem gewissen Major Hansen, als er die Glocke sieht, eine Idee. Am 6. Dezember 1942 schickt er ein Paket an den Gauleiter des Gaues Schleswig-Holstein und schreibt dazu: „Ich überantworte Ihnen diese Glocke und bitte Sie, sie der Stadt Lübeck als Geschenk des mit seiner Garnisonsstadt eng verbundenen schleswig-holsteinischen Korps als ‚Ilmenseeglocke‘ zu übergeben, damit sie beim Wiederaufbau einer ihrer altberühmten Kirchen Verwendung finden möge. Ich hoffe, dass sie noch vor dem Weihnachtsfest eintrifft und ihr Klang der Heimat verkündet, wie stark die Front mit ihr verbunden ist.“
So kam die Glocke wieder nach Lübeck. Dort kündete sie allerdings nicht von der „Verbundenheit der Front“, sondern wurde in eine Ecke gestellt – wohl nicht zuletzt aus Angst vor der Empörung, den der öffentliche Diebstahl eines solchen Kulturgutes international mit sich gebracht hätte.
Erst 58 Jahre später, im Herbst 2000 entdeckt in Staraja Russa die ehemalige Zwangsarbeiterin Maria Shavried im Nachlass eines russischen Soldaten eine alte deutsche Feldzeitung: Darin findet sich ein Artikel über die Bronzeglocke und ihre Reise nach Lübeck. Shavried informiert den Bürgermeister von Staraja Russa. Der fragt in Lübeck nach – und siehe da, man findet die Glocke in einer Ecke der Lübecker Katharinenkirche, etwas eingestaubt zwar, aber doch gut erhalten. Im Januar 2001 wird die Glocke von einer deutschen Delegation, angeführt von Lübecks Kultursenator Ulrich Meyenborg, in Staraja Russa übergeben. Bis die Stankt Mina Kirche wieder aufgebaut ist, steht sie im „Museum der Nord-West-Front“, versehen mit neuem Joch und neuem Klöppel.
Damit ist ihre Geschichte aber noch nicht zu Ende. Anlässlich der ersten Russischen Kulturtage in Lübeck im vorigen Sommer besucht Maria Shavried die Hansestadt. Auch eine Ausstellung mit Zeichnungen russischer Schüler zur Rückkehr der Glocke wird gezeigt. Guni Heidermann, Deutschlehrerin an der Lübecker Geschwister-Prenski-Gesamtschule wird auf die Geschichte aufmerksam. Sie verarbeitet den Stoff in einem Musical mit dem Titel „East Side Story“ und studiert es mit Schülern der achten Klasse ein. Die Musik schreibt der in Lübeck lebende Russe Arnold Nevolovitsch. Ende Juni diesen Jahres ist Premiere im Lübecker Kolosseum.
Die Handlung des Musicals spielt im Jahr 2005: Die Beziehungen zwischen den beiden Städten Lübeck und Staraja Russa sind inzwischen so gut, dass ein regelmäßiger Kulturaustausch stattfindet .Eine Gruppe Lübecker Schüler reist für die Einweihungsfeier der frisch renovierten Kirche Stankt Mina nach Staraja Russa. Im Glockenturm hängt die damals entwendete, so genannte Ilmenseeglocke. Und natürlich – was wäre eine „East-Side-Story“ ohne eine Liebesgeschichte – verliebt sich ein junger Russe Hals über Kopf in eine junge Deutsche. Es beginnen Verwicklungen um Geschichte, Schuld und Sühne einer jungen Generation.
Für die 33 beteiligten Schülerinnen und Schüler war das Musical eine ganz neue Herausforderung, denn das Thema Russland lag bisher in weiter Ferne. Russische Freunde hatten die wenigsten. Und auch der Kontakt zu russischen Jugendlichen war eher spärlich. So eröffneten sich für die Darsteller durch die Einfühlung in ihre Rollen neue Sichtweisen – auch auf Geschichte.
Yovana Gatzke (15) beispielsweise spielt im Stück die „Babuschka“, eine alte russische Frau, die noch voller Hass gegen den ehemaligen Feind, die Deutschen ist. „Ich sehe sie jetzt auf jeden Fall mit anderen Augen, weil ich mich in eine ganz andere Person hineinversetzen muss“, sagt Yovana, „und dass ist wirklich eine sehr andere Sicht als die, die wir haben. Wir denken, wir hatten Krieg, wir haben die zerstört und die haben uns zerstört. Aber eigentlich haben wir damit angefangen und alle anderen zerstört und die haben sich nur gewehrt.“ Den Erlös aus der Musicalaufführung spendet die Schule für den Wiederaufbau der Stankt Mina Kirche.
Die Geschichte der Glocke geht noch weiter. Denn Maria Shavried brachte aus Staraja Russa auch einen Sack mit Adressen mit: Russische Schüler wollten Kontakt zu deutschen Schülern bekommen. Dieser Wunsch ist jetzt Wirklichkeit geworden. Die 33 Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Prenski-Gesamtschule besuchten mit ihren Lehrern und Betreuern als erste Lübecker Gruppe Anfang Juli die Stadt Staraja Russa.
Natürlich wurde auch das Musical dort aufgeführt. „Auch wenn die Texte größtenteils in deutsch waren“, berichtetet Lehrerin Heidermann, „wir waren überwältigt von der gefühlsgeladenen Situation. Ich denke, durch die Musik, intensives Schauspiel und die Tänze kamen unsere Inhalte trotz der Sprachprobleme rüber.“ Für die Jugendlichen waren die acht Tage in einer fremden Welt eine einmalige Erfahrung. „Dort gibt es Probleme, über die wir uns hier keine Gedanken machen. Das Leben ist auch für die Jugendlichen viel härter“, erzählt die fünfzehnjährige Juliane Bagdasarjan, selbst gebürtige Ukrainerin. „Ich denke, wir haben eine wirklichen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet.“
Die praktische Verständigung zwischen deustchen und russischen Schülern verlief zwar eher mit Händen und Füßen – aber sie funktionierte: Auf der gemeinsamen Abschlussparty wurden viele Post- und E-Mail-Adressen und Telefonnummern ausgetauscht. Und auch eine kleine Liebelei zwischen einem deutschen Mädchen und einem russischen Jungen soll es gegeben haben. Ein Ende der Geschichte der Glocke ist also nicht in Sicht. Aber ein neuer Anfang.
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