: Viele alte Bekannte
Immer wieder sonntags: Das Heimatkunde-Museum der Elbinsel Wilhelmsburg zeigt die Alltagsgeschichte des Stadtteils – und leistet ganz nebenbei Sozialarbeit
von MATHIAS WÖBKING
Jeden Sonntag hat Käte Eggers ein Rendezvouz: Die 83-jährige Wilhelmsburgerin trifft sich mit dem drei Jahre jüngeren Fritz Ecker. „Das ist mein Bekannter“, sagt sie. Auf diese Bezeichnung legt sie Wert. Er hat einen Anzug angezogen, sie eine weiße Bluse und einen Rock. Seit sich die beiden WitweR vor sechs Jahren kennengelernt haben, treffen sie sich von April bis Oktober immer sonntags, weil dann das Museum der Elbinsel Wilhelmsburg von 14 bis 17 Uhr seine Sammlung öffnet. Vor allem aber, weil es dann für 80 Cent Kaffee und für einen Euro Kuchen gibt.
Der Stadtteil, in dem Käte Eggers und Fritz Ecker ihr bisheriges Leben verbracht haben, hat einen schlechten Ruf. Wenn die Medien von Wilhelmsburg berichten, dann fallen Worte wie „Parallelgesellschaft“ oder „Ausländerghetto“. Was wenige wissen: Schon in der Kindheit der beiden wurde über die Elbinsel, die erst seit 1937 zu Hamburg gehört, geschimpft. „Damals sprach man von der Polackenstadt“, erzählt Ursula Falke vom Verein für Heimatkunde in Wilhelmsburg, dem Träger des Museums. Die Vorurteile gegenüber den aus Osteuropa eingewanderten IndustriearbeiterInnen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts so undifferenziert, wie sie es heute gegen türkische Familien sind, ärgert sich Falke. Sich selbst ein Bild zu machen, lautet ihr Ratschlag an alle, die gern über das Problemviertel herziehen, ohne es je besucht zu haben.
Wer mit dem Rad oder zu Fuß im Stadtteil unterwegs ist und Station im Museum der Elbinsel macht, bekommt dort tatsächlich nicht die Geschichte eines Großstadtghettos erzählt: Die Ausstellung zeichnet vielmehr das Bild eines landwirtschaftlich geprägten Dorfes. Alleine oder in einer Führung lässt sich etwa erfahren, wie die Adelsfamilie der Groten vom 14. bis zum 17. Jahrhundert in der damals neu eingedeichten Landschaft lebte. Von deren Schloss ist auch noch der Burgkeller zu besichtigen. Das heutige Museumsgebäude wurde 1724 darauf gesetzt und diente zunächst über 150 Jahre lang als Amtshaus. Wie die WilhelmsburgerInnen in dieser Zeit ihr Gemüse anbauten und Butter herstellten, auch das ist hier zu erfahren – auf Wunsch in platt. Eine Wohnstube, eine alte Küche und eine Waschküche geben zudem Einblick in den bäuerlichen Alltag.
Auch wenn die Ausstellung im Mittelpunkt steht: Viele der Stammgäste, vor allem alte Menschen, werden eher vom Kaffee und Kuchen angezogen. In gewisser Weise leistet das Museum, das keinen Eintritt nimmt und von zehn Ehrenamtlichen geführt wird, dadurch nebenbei Sozialarbeit. Mit einer Einschränkung: „Türkische Mitbürger kommen leider bislang nur, wenn wir sie direkt ansprechen“, bedauert Wolfram Rettig vom Verein. „Und in den Schulklassen natürlich“, ergänzt er.
Vielleicht ist das nur eine Hoffnung: In achtzig Jahren sehen Omas und Opas, die heute als Einwandererkinder in Wilhelmsburg geboren werden, die Geschichten des Museums als Teil ihrer eigenen Geschichte. Und jeden Sonntag treffen sich die 83-jährige Ayșe und der 80-jährige Max dort zum Kaffee. Vor ein paar Monaten musste Käte Eggers übrigens einige Male ihren Kuchen allein essen: Der liebe Bekannte lag im Krankenhaus. „Da haben sie mich gefragt, wo denn mein Freund ist“, erzählt sie und schüttelt den Kopf: „Meinen Freund haben sie ihn genannt.“ Aber dann lächelt sie und sagt: „Und wenn schon – geht doch keinen etwas an.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen