: Schatzsucher der Kindheit
Im Andy-Warhol-Stil aber nach indianischer Schmauchtechnik gebrannt: die geheimen Keramikwelten im Oldenburger Pulverturm
Der Oldenburger Pulverturm sieht aus wie ein in die Erde gesetztes Ei. Undurchdringlich wirken die alten Mauern aus rotem Klinker. Über eine Holztreppe erreicht man eine kleine Holztür mit alten Eisenbeschlägen. Sie führt in das zwielichtige, kühle Innere des historischen Gebäudes, und zwar in ein obskures Raritätenkabinett. Judith Runge zeigt hier im Rahmen des Oldenburger Kultursommers „Geheime Welten“, Keramik aus den Jahren 1995 bis 2002.
Doch mit Märchen oder fabelhaften Inszenierungen hat die junge Keramikerin aus Halle nichts am Hut. Vielmehr schafft sie leise Irritationen, ja, auch offenen Schrecken. Ihre „Erinnerungskiste“ aus Steinzeug und Porzellan ist eine braun-grau getönte Schatulle mit eingearbeitetem Scharnier. Die Oberflächen sind rissig, schrundig. Wie eine Schatzkiste, die lange tief in der Erde vergraben war, so scheint es. Darin liegen Keramikröllchen, alten Briefen gleich.
Es sind diese Schätze der Kindheit, die man hier riechen und schmecken kann. Aus einer Zeit, in der scheinbar unbedeutender Kleinkram riesige Geschichten transportiert. Die „Blaue Truhe“ und eine auf Stelen stehende Kiste dagegen bleiben hermetisch verschlossen. Neugier erfasst die Betrachter, die ihre Oberflächen-muster dechiffrieren wollen und dabei die eigene kindliche Phantasie erkennen, die immerzu Schätze vermutet.
Ja, sie lebt! Und auch Tastsinn erregt bei Judith Runge das Auge. Die „Erinnerungsstücke“ aus Porzellan sind zum Teil echte Handschmeichler. Die mal faustkeilförmigen, mal skarabäenartigen Objekte aus Porzellan sind bei niedrigen Temperaturen gebrannt. Dieser Schmauchbrand ist eine alte Indianertechnik, und so mischen sich hier archaische Form und Technik.
Zum Teil sind die Oberflächen bei Runge einfach poliert, die Stücke wirken dann wie aus Felsspat gearbeitet. Beinahe wie tatsächlich historische Objekte. Doch die bekommen bei der jungen Künstlerin ein modernes Kleid: Verschachtelte Porträts in Sepia oder bruchstückhafte Schmetterlingsdekors hat Runge ihnen im Siebdruckverfahren übergezogen: Andy Warhols Serialität auf archaisch anmutendem Original.
Andere Stücke verschwinden in einem Stück Kaninchenfell, wieder andere sind mit Reliefs überzogen oder wie von Seepocken übersät. Ja, und diese Seeigel: unglasierte, weiße Porzellanobjekte mit stacheliger Haut, schwammartige Wesen mit noppigem Besatz. Man will die Form dechiffrieren und gelangt so immer mehr zur Frage, was sie wohl im Inneren verbergen mag.
Judith Runge schafft eine eigentümliche Spannung zwischen Zeigen und Verschließen. Das läuft zunächst oftmals über die äußere Form, die an ein bekanntes Etwas gemahnt. Aber schmucke Idyllen hat die Hallenserin dabei nicht im Sinn. Nach oben offene Quader aus einem filigranen, weißen Porzellangeflecht wirken zunächst wie große, dekorative Blumenkübel.
Das „Tierreich“ (2001) ist der Stoff, aus dem hier die Wände sind: Nilpferde, Schildkröten, Katzen, kadaverbleich, ineinandergeschachtelt. Endlager Tier, ausgeschlachtet, weggeschmissen, missbraucht. Desgleichen die „Kinderstube“: Hier sind babygleiche Püppchen zum Kübel verflochten: Retortengeschöpfe, massenhaft, Rohstoff. Der leise Schauder, der langsam hochkriechende Schrecken, nur noch getoppt von den kleinen „Homunculi“, Porzellanbabyputten in umgestülpte Laborgläser gepfercht, die mit Folie verschlossen sind. Mit den Porzellanpüppchen, die die gelernte Porzellanmalerin in Meißen wohl verzieren durfte, haben diese Arbeiten nichts mehr gemein.
Marijke Gerwin
Am Schlosswall, Oldenburg. Öffnungszeiten: freitags von 14 bis 17 Uhr, samstags und sonntags von 11 bis 17 Uhr.
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