: Leben im Schatten des Panzers auf der Straße
Die palästinensische Stadt Ramallah ist von israelischen Soldaten besetzt. Die Ausgangssperre wird nur gelegentlich aufgehoben
RAMALLAH taz ■ Die Hitze des Sommertages weicht langsam, und ein kühlender Wind weht durch die offenen Fenster und Türen. Der Abend taucht den Garten und die Straße in ein weiches warmes Licht. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Menschen aus der Nachbarschaft normalerweise aus ihren Häusern kommen und ein reges mediterranes Straßenleben aufnehmen. Doch der Panzer schräg gegenüber sorgt Furcht erregend für die Einhaltung der Ausgangssperre im Stadtteil.
Seit fast einem Monat ist Ramallah, wie fast alle palästinensischen ehedem selbst verwalteten Gebiete, erneut durch das israelische Militär besetzt. Doch diesmal hat sich das, was man die erste, zweite, dritte oder vierte Invasion nannte und durch Zerstörungen und zivile Opfer gekennzeichnet war, in diese vermeintlich ruhige, aber nervenaufreibende Wiederbesatzung gewandelt. Eine „humanitäre Besatzung“ nennt es Madschid von nebenan und klingt dabei nicht mal zynisch. So viel Schrecken war in den vergangenen Monaten auszuhalten, dass der jetzige Zustand „lediglich“ Normalität unmöglich macht.
Die israelischen Soldaten haben sich postiert. Panzer stehen an den strategischen Punkten, einige Barrikaden wurden eilig von Bulldozern errichtet, Militärjeeps rasen Straßenzüge auf und ab und wirbeln Staub auf.
Anfangs nur alle drei Tage, dann öfter und jetzt unregelmäßig wird die Ausgangssperre aufgehoben. Genaues weiß man erst, wenn es passiert. Der Zeitraum wird zwar bekannt gegeben, aber oft wieder geändert. Von 9 bis 12 Uhr, heißt es am Abend zuvor, aber sicher ist man sich erst am Morgen, wenn die ersten Mutigen sich nach draußen wagen, dann einige Autos folgen und schließlich der Müllmann seinen Karren durch die Straße zieht. Dann setzen sich alle in Bewegung. Die Autos stehen vorsorglich in der Einfahrt eines Nachbarn aufgereiht, nachdem bei einer früheren Invasion einige Fahrzeuge von Panzern plattgewalzt wurden.
Drei Stunden sind nicht viel, um das zu erledigen, was eine Familie und ein kaum mehr existentes Berufsleben verlangen. In Windeseile öffnen die Geschäfte, der Markt und die Innenstadt sind voller Menschen. Lebensmittel, Gas und Wasser zu „bunkern“, dazu sind die Leute längst übergegangen. Nur fehlt den meisten Familien inzwischen schlicht das Geld dafür. Weit über die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung ist unter die Armutsgrenze gerutscht.
Drei Stunden nach drei Tagen eingesperrt zu Hause fühlen sich wie die große Freiheit an, mit der man dann doch nicht recht weiß, wie man sie nutzen soll. Zum Arbeiten zu wenig, zum einfachen Herumspazieren zu viel. Für soziale Kontakte reicht es nicht. Wer setzt sich schon gern morgens in ein Restaurant oder eine Kneipe? So ist man bald wieder auf dem Rückweg, und schon kursieren Gerüchte, die Aufhebung der Ausgangssperre sei bis 15 Uhr verlängert. Nur: Woher weiß man, ob das stimmt? In Erinnerung bleiben die Bilder des Panzerbeschusses im Markt von Dschenin, bei dem Kinder zu Tode kamen, die „irrtümlich“ auf der Straße waren. Dass die Armee nach mehreren solchen Zwischenfällen schwere Fehler eingesteht und sich entschuldigt, macht Menschen nicht wieder lebendig.
Doch diesmal wurde die Ausgangssperre tatsächlich verlängert. Angesichts der Sehnsucht nach etwas mehr Normalität wächst auch der Mut, noch einmal in die Stadt und vielleicht zu einem Verwandtschaftsbesuch aufzubrechen, um die paar dazugewonnenen Stunden zu nutzen.
Danach herrschen wieder Militärjeeps über plötzlich ausgestorbene Straßen. Mit Lautsprechern wird das Ende der Freiheit verkündet. „Vor einigen Tagen“, erzählt die 15-jährige Rania belustigt, „hieß es aus einem Lautsprecher: Leute von Ramallah, ihr seid jetzt im Gefängnis!“
Während der Fußballweltmeisterschaft haben einige Gruppen von Soldaten immer mal wieder an Türen geklopft und den etwas überraschten Bewohnern befohlen, den Fernseher anzuschalten. Für die Dauer eines Spiels wurden so manche zu Geiseln. „Ach, es gibt solche und solche“, meint Umm Fadi aus der Nachbarschaft gedankenverloren. „Einige sind ganz freundlich und entschuldigen sich hinterher, und andere randalieren und kümmern sich nicht darum, dass sie es mit Menschen zu tun haben.“
Die Menschen helfen sich gegenseitig, klettern über die Mauern in den Garten des Nachbarn, um die Kinder zum Spielen zu bringen oder gemeinsam eine Wasserpfeife zu rauchen. Es gibt Gerüchte, die Ausgangssperre werde künftig nur noch nachts verhängt. Vor zwei Wochen munkelte man auch vom möglicherweise bevorstehenden Abzug der israelischen Armee. Doch nichts von alledem tritt ein und die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern wächst. KATRIN MARTENS
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