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Der Weg der Landschaft in die Kunst

Barbizon und Auvers-sur-Oise – zwei Dörfer in Frankreich zeugen von der Zeit, als gerade die Fertigfarben in Tuben erfunden waren und die Maler aufs Land zogen, um in der Natur zu arbeiten. Noch heute sind ihre Spuren deutlich sichtbar

von STEFANIE BISPING

Madame Ganne hatte sich alles genau überlegt. Mit den komischen Typen aus Paris, die seit neuestem regelmäßig in ihren Kolonialwarenladen im Dörfchen Barbizon einfielen, sich mit Brot und Rotwein eindeckten und dann mit ihren Staffeleien in Richtung des Waldes von Fontainebleau verschwanden, müsste doch mehr Geld zu machen sein. Wenn sie ihr Häuschen ausbauen, ein größeres Esszimmer einrichten würden … Sie besprach sich mit Monsieur, und bald darauf eröffnete die Auberge Ganne. Gemütlich war’s dort, Madame verstand zu kochen, und günstiger als die Gasthäuser auf der Postkutschenstrecke in Chailly war es außerdem. Künftig trugen sich viele Maler, darunter die später als „Landschaftsschule von Barbizon“ berühmt gewordene Gruppe um Jean-François Millet, Théodore Rousseau, Narcisse Diaz de la Peña, Jean-Baptiste Corot und Charles-François Daubigny, ins Gästebuch ein.

Seit diesem ersten Tourismusboom im 19. Jahrhundert hat sich nicht viel verändert im Lieblingsdorf der Landschaftsmaler. Statt 140 Einwohnern hat Barbizon nun 2.000, die Grande rue, früher die einzige Verkehrsader des Orts, kreuzen nun auch ein paar Querstraßen. In der Auberge Ganne scheint so weit alles beim Alten. Die untere Etage mit den Speisezimmern ist anhand von zeitgenössischen Skizzen und Schilderungen originalgetreu hergerichtet worden. Die Nachfahren des Ehepaars Ganne, die noch in Barbizon ansässig sind, haben ihre Erinnerungsstücke zur Verfügung gestellt. Im Esszimmer der Maler ist alles bemalt, was Fläche bietet. Tische, Stühle, Türen, Wände – an Regentagen, wenn sie nicht in die freie Natur hinauszogen, um zu malen, brauchte die Kreativität der Hausgäste eben ein anderes Ventil.

Für Madame Ganne waren das nicht unbedingt Glückstage. Die Maler vertrieben sich die Zwangspause mit dem Genuss von Rotwein und verspeisten nebenher alles, was sie finden konnten. Solche Ausmaße nahm dieses Treiben an, dass Madame sich genötigt sah, ihre Vorräte in eine Truhe zu schließen. Die gehört noch immer zum Inventar des Hauses und zeugt vom Spieltrieb der Maler: Sofort griffen die nämlich zu Pinsel und Farben und bemalten die Truhe mit allem, wovon sie vermuteten, dass es darin verborgen sein könnte.

Dass das alles überhaupt möglich war, war der Erfindung der Fertigfarben in Tuben zu verdanken, die ab 1830 vermarktet wurden. Mussten die Maler zuvor ihre Farben noch selbst im Atelier zusammenrühren und die einzelnen Farbschichten auf der Leinwand oft tagelang trocknen lassen, konnten sie mit der neuen Erfindung die Natur zu Hause besuchen. Jetzt war die Landschaft nicht mehr Hintergrund, sondern Motiv. Fernab der Stadt suchte man in der Ursprünglichkeit des Landlebens die Natur in allen Jahreszeiten einzufangen. Kostproben davon sehen die Besucher der „Auberge Ganne“ im ersten Stock, den ehemaligen Gastzimmern. Die Möbel sind nicht erhalten, aber die Wände erzählen Geschichten. Wie perforiert sind sie, weil die Künstler ihre Skizzen abends an die Wände pikten. Andere malten direkt auf den Putz: Ein Selbstporträt zeigt einen ärmlich gekleideten Mann vor einer Leinwand, über dem Kaminsims prangt eine Weinflasche und daneben ein Gesicht, das die Besucher mit aufgerissenen Augen anstarrt.

Das Gesicht des Dorfs Auvers-sur-Oise hat ein anderer Maler berühmt gemacht hat: Vincent van Gogh verbrachte hier die letzten siebzig Tage vor seinem Tod wie besessen mit Malen. Im Schnitt ein Meisterwerk pro Tag schaffte er während des strahlenden Frühsommers des Jahres 1890 in und um Auvers-sur-Oise. Und das Dorf sieht aus, als sei es diesen Bildern, die längst in den großen Museen der Welt oder in den Safes von Versicherungen gelandet sind, nachgebaut worden. Jede Ecke sieht vertraut aus; die Dorfkirche, das Rathaus, das Schloss, der Garten des Kollegen Daubigny, der Blick über gelbe Felder und den Fluss – das hat man alles schon in den berühmten leuchtenden Farbtupfern gesehen. Die Wirklichkeit wirkt etwas blasser, aber unverändert – Auvers ist Dorf geblieben.

Die kleine Kammer in der Auberge Ravoux, die heute „Maison van Gogh“ genannt wird und in der er als gänzlich Unbekannter starb, ist zu besichtigen. Eine enge Stiege geht es hoch, dann steht man in dem Zimmerchen, in das sich der Maler schwer verletzt zurückschleppte, nachdem er sich auf der Ebene von Auvers eine Schussverletzung beigebracht hatte, die schließlich tödliche Folgen hatte. Zweieinhalb Tage dauerte sein Martyrium, bis er am 29. Juli 1890 der Verletzung erlag. Das Zimmer ist heute leer; die Möbel – Eisenbett, Waschtisch, ein Stuhl – stehen nebenan, weil man nicht mehr weiß, wie sie ursprünglich angeordnet waren. Liegt es an der bedrückenden Biografie des Malers oder an der düsteren Leere des Zimmers? Jedenfalls atmen hier die Wände Einsamkeit und Verzweiflung.

Im Parterre sieht die Welt wieder etwas heller aus. Der Speiseraum, der kaum verändert wurde, ist heute Restaurant. Im gedrängt vollen Gastraum ist das Bild der verlassenen Kammer schnell verblasst. Dabei hat auch der unglückliche van Gogh hier über seinem Abendessen gesessen – das etwas frugaler gewesen sein dürfte als was heute auf der Karte steht. Und nichts lag van Gogh wohl ferner als die Vorstellung, dass sich vor der Tür einmal Schulklassen drängen würden, um seine letzte Unterkunft zu besichtigen.

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