: Der Kanzler ist am Ende
Scharping war nicht das Problem – es ist Schröder. Sein müder Auftritt machte klar: Die SPD ist bald Oppositionspartei. Ein Grund: Sie verkennt die soziale Ungerechtigkeit
Scharping? Zu Scharping ist nichts zu sagen. Das Thema ist Schröder. Auf den Kanzler kommt es an. Und 50 Sekunden an einem Donnerstagnachmittag haben der Nation gezeigt, dass die SPD die Oppositionspartei von morgen ist. Schröder hat nicht nur seinen achten Minister entlassen – sondern auch sich selbst.
50 Sekunden dauerte die Pressekonferenz, auf der Schröder die nackten Fakten bekannt gab: Verteidigungsminister Scharping hat einen Nachfolger, es ist der Fraktionsvorsitzende Struck. Und Abgang des Kanzlers. Er verschwand so schnell, dass zumindest Bild noch gar nicht begriffen hat, dass er gegangen ist – und zwar für immer. Die Titelzeile des Blattes donnerte gestern: „Kanzler bombt Scharping weg.“ Das klingt nach einem energischen Schröder, durchsetzungsstark, kriegerisch, mutig.
Was für ein Unsinn. Schröder war hilflos. Das wird spätestens klar, wenn man sich vorstellt, was ein „bombiger“ Auftritt gewesen wäre. Der hätte ungefähr so ausgesehen: Der Kanzler betritt gemessen den Raum, reckt sich, streckt sich und wartet, bis sich alle Kameras auf ihn richten und das Scheinwerferlicht sein kantiges Kinn ausleuchtet. Dann spricht der souveräne Staatsmann, der über den Widrigkeiten des Alltags schwebt. Er beansprucht Zeit, Raum und Würde. Schließlich hält er eine Rede: Die Vorwürfe gegen Scharping seien zwar noch nicht geklärt, aber die Vertrauensbasis fehle, daher wurde im Interesse Deutschlands beschlossen, ihn von seinem Amt zu entbinden. Die Bundeswehrreform – die größte der Geschichte! – sei sehr erfolgreich und werde fortgesetzt. Mit dieser Herausforderung sei nun Peter Struck betraut. Als Fraktionvorsitzender, gestählt in den parlamentarischen Verhandlungen auch mit der Opposition, sei er der geeignete Kandidat für diese große Zukunftsaufgabe. Und wie wichtig der Beitrag einer modernen Interventionsarmee sei, das habe sich ja zuletzt in Afghanistan gezeigt. Und so weiter.
Wirkt wie das Klischee einer Rede? Mag sein. Aber manchmal ist es die Aufgabe eines Kanzlers, das Erwartbare zu tun und seine Rolle genau dadurch zu erfüllen. Denn Normalität stiftet Vertrauen. Herausfordernd Neues wollte am Donnerstag niemand hören. Die Wähler warteten nur auf einen Kanzler, der sich überlegen zeigt. Diese Rolle hat Schröder verweigert. Das ist die Botschaft seiner müden 50 Sekunden.
Diese Müdigkeit ist neu, aber sie ist älter als die jüngste Scharping-Affäre. Ironischerweise zeigte sich die konzeptionslose Erschöpfung des Kanzlers in genau der gleichen Stern-Ausgabe, die auch Scharpings Besuch bei einem Herrenausstatter auswalzte. Denn nicht das luxuriöse Leben des Verteidigungsministers war die Titelstory – es war das Schicksal der Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf. Über die „zierliche“ Blondine, „Kleidergröße 34“, war allerdings nichts Neues zu erfahren, dafür aber über ihren „Spatzl“ Gerd. Der Kanzler bekannte nämlich, dass er durchaus davon träumt, einmal unauffällig und ohne Pflichten in New York zu leben oder ungestört auf einer Gartenbank vor seinem Einfamilienhaus in Hannover abzuhängen. Das ist sympathisch und nur zu gut zu verstehen – aber keine Vision für einen Kanzler.
Wenn sich Schröder eine Zukunft abseits des Kanzleramts vorstellt, dann spiegelt er die Depression seiner Genossen. Auch der Regierungspartei SPD scheint der Glaube zu fehlen, dass sie noch weiter das Projekt Deutschland gestalten muss. Denn wie? Mit welcher Absicht?
Sieht man sich die SPD-Losungen der letzten Jahre an, dann gab es davon viele; sie alle klangen gut, aber es fehlte die unverwechselbare Botschaft, eben das Ziel, um das es sich zu kämpfen lohnt. Da gab es das „Schröder-Blair-Papier“ mit der Idee des „dritten Weges“, den in Deutschland niemand wirklich verstanden hat. Es folgte die „Konsensdemokratie“ des Kanzleramtsministers Walter Steinmeier, die spätestens mit dem Bündnis für Arbeit gescheitert ist. Schließlich wurde der Wahlkampf mit einem Kongress zur „Mitte“ eingeläutet, das war im Februar, aber von dieser Mitte redet inzwischen niemand mehr.
Wovon die Wähler reden, das sind drei Namen: Pisa, Hartz und Telekom. Scheinbar sind es drei verschiedene Themen, aber sie meinen das Gleiche. Es ist ein Gerechtigkeitsdiskurs, der sich noch versteckt und verschleiert. Manchmal wirkt er wie eine Neiddebatte, manchmal scheint es um Personalien oder um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu gehen. Doch das ist nur Oberfläche. Dahinter verbirgt sich der massenhafte Wählerwunsch nach Chancengleichheit. Was bisher fehlt, ist die Partei, die diese Sehnsucht artikuliert und formt. Das wäre doch eine nahe liegende Aufgabe für die SPD, die sich als Partei der Gerechtigkeit gegründet hat.
Telekom: Drei Millionen Kleinaktionäre erleben, dass der Kurs ihrer Aktie in den Keller stürzt. Das ist jedoch nicht der Skandal, der die Telekom zum Dauerthema von Bild macht. Es ist der Schock der Börsenneulinge, dass sie Verluste einfahren, während sich der Vorstand mit millionenschweren Aktienoptionen belohnt. Allerdings, man muss es zugeben: Noch reicht den Minianlegern das Bauernopfer Ron Sommer. Kaum ist der Telekom-Chef entlassen, übersehen die Kleinaktionäre großzügig, dass die anderen Vorstandsmitglieder immer noch gut an ihren Aktienoptionen verdienen. Jetzt wird erst mal gehofft, dass der Kurs wieder steigt und man selbst auch ein paar Cent realisiert. Dennoch: Erstmals beginnen sich Millionen zu fragen, ob Deutschland tatsächlich eine Leistungsgesellschaft ist, die nur die Tüchtigen belohnt. Langsam sickert die Erkenntnis durch, dass wir keineswegs in einer „nivellierten Mittelschichtsgesellschaft“ leben, sondern in einem Privilegien-Stadl, der die Reichen reicher macht und die Armen ärmer.
Pisa: Inzwischen heißt Pisa gar nicht mehr Pisa, sondern „Pisa-Schock“. Was aber hat die Deutschen schockiert? Zugegeben, bisher ist es nicht so sehr die Gerechtigkeitslücke, dass Kinder aus armen und ungebildeten Elternhäusern keine Chance haben. Schockiert hat der internationale Vergleich, der Deutschland auf Platz 22 verweist. Der Standort, unser Stolz, scheint gefährdet. Momentan beschränkt sich die parteipolitische Debatte noch darauf, um die sozialdemokratische Gesamtschule zu kreisen. Doch Pisa hat zwei konservative Ideologeme für immer zerstört. Das wird Folgen haben. Erstens: Wie gern wurde behauptet, die Armen seien selbst schuld an ihrem Schicksal. Nun ist amtlich bestätigt, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist, die die Benachteiligten weiter benachteiligt. Und zweitens: Bisher galt soziale Gerechtigkeit als ein Ideal von linken Spinnern, die angeblich immer noch nicht begriffen hatten, dass der Sozialismus im Jahre 1989 endgültig gescheitert ist. Jetzt zeigt sich im internationalen Vergleich, dass eine Zweidrittelgesellschaft ökonomischen Schaden anrichtet. Soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum bedingen einander.
Hartz: Zunächst ist zu befürchten, dass die Regierungskommission den Sozialabbau vorantreibt. So ist durchaus zu erwarten, dass nach der Bundestagswahl die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe sinkt. Und auch die Zumutbarkeitsregeln sollen verschärft werden. Der Kommission reicht es nicht, dass Arbeitslose schon jetzt bereit sein müssen, täglich 2,5 Stunden zu ihrem neuen Job zu reisen. Doch gleichzeitig ist die Hartz-Kommission eine Wende. Zwar wird schon seit mehr als zwanzig Jahren über das Phänomen der Arbeitslosigkeit diskutiert, aber nun folgen Reformen – Reformen, die scheitern müssen. Denn selbst eine effiziente Vermittlung kann keine Arbeitsplätze schaffen. Diese Erkenntnis ist immerhin schon bis zur Union vorgedrungen, die damit Wahlkampf macht. Wenn sie wollte, könnte sich die CDU auch auf die jüngste Prognos-Studie berufen, die im Jahre 2010 immer noch 3,5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Es nutzt also auch nichts darauf zu hoffen, dass nach dem Geburtenknick kaum noch Junge in die Berufe drängen. Das Scheitern der Hartz-Reformen wird die Diskurse in Deutschland verändern, wird deutlich machen, dass die Arbeitslosen ohne Arbeit sind, nicht weil sie faul sind – sondern weil es nicht für jeden Arbeit gibt. Was ja keine Katastrophe ist: Die Wirtschaft wächst trotzdem; es gilt den Überfluss zu verteilen. Aber fairer als bisher. Auch hier wartet eine Gerechtigkeitsdebatte nur darauf, dass die SPD sie endlich adoptiert.
Aber das wird noch dauern. Erst einmal wird ein Exkanzler namens Schröder nach New York umziehen. ULRIKE HERRMANN
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