documenta11 spot: „Carib’s Leap“ und „Western Deep“ von Steve McQueen
Tiefenbohrer der Geschichte
Es geht hinab. Einmal im freien, einmal im kontrollierten Fall bewegen sich die Figuren in Steve McQueens Filmen „Carib’s Leap“ und „Western Deep“. In „Carib’s Leap“ sind es Schemen vor einem karibischen Himmel, den Stürzenden des 11. September ähnlich. Erinnern sollen sie an die Besetzung der Insel Grenada durch die Franzosen im 17. Jahrhundert. Um der Fremdherrschaft zu entgehen, flohen die Kariben bis zum äußersten Punkt der Insel, Saltaire, und stürzten sich dort von den Klippen ins Meer – eine radikale Form des Widerstands, die sich später, zu Zeiten der Plantagensklaverei, in Hunger- und Gebärstreiks fortsetzte. Die Franzosen, erzählt der britische Künstler McQueen dem Musiker Tricky, hätten just an der Stelle der kollektiven Selbsttötung eine katholische Kirche errichtet.
Wiederholung bestimmt die Struktur von „Carib’s Leap“. Ein Ensemble von Sequenzen wird so aneinander geschnitten, dass man nie recht weiß, ob man einer Endlosschleife oder einer nie abreißenden Reihung beiwohnt. Menschen am Strand, ein Mann bastelt Schiffchen aus Kokosschalen, die Schemen der Fallenden in der Luft, Kinder im Wasser, der Fels mit der Kirche, ein Boot in Flammen, ein anderes auf dem Wasser, der Mond, die Gischt, die so oft zu sehen ist auf der Documenta. Wenn das Meer hier als Ort der Warentransporte, der Flüchtlingsschiffe und der Eroberungen vergangener Jahrhunderte erscheint, so macht es die Unterseite von Globalisierung stofflicher, als es Datenautobahnen, Flughäfen und Luftraum je könnten.
„Western Deep“, der zweite Documenta-Beitrag des Turner-Preisträgers McQueen, führt nach Südafrika, in eine Goldmine, deren Schrecken der Film nicht nur zu zeigen, sondern physisch erlebbar zu machen versucht. Geräusche, Lichtverhältnisse, die Enge im Innern des Schachts: McQueen erweckt den Anschein, der Zuschauer könne an dieser fremden Welt teilhaben, etwa wenn er minutenlang nichts als die dunkle Leinwand zeigt. Bisweilen rückt ein Lichtpunkt ins Bild, eine der am Helm angebrachten Lampen der Minenarbeiter. Doch statt die Szenerie zu erhellen, blendet sie. In ihrem Widerschein mag für Augenblicke ein Gesicht eher zu erahnen denn zu erkennen sein, wie deformiert und von Francis Bacon inspiriert.
In Phasen der Stille drängt unvermutet der Krach des Aufzugs oder, schlimmer, der des Steinbohrers. Wenn die Arbeiter – kein Weißer ist unter ihnen – endlich den Boden des Schachts erreichen, haben der feuchte Stein und die Goldadern etwas von der Innenansicht eines Körpers, hat die Arbeit mit dem Steinbohrer etwas vom Metzger- oder Chirurgenhandwerk, mit dem Unterschied, dass man von dem Körper, den man mit Werkzeug traktiert, einverleibt wurde. Die Kariben aus „Carib’s Leap“ entgingen der Sklaverei, scheint McQueen sagen zu wollen, die südafrikanischen Minenarbeiter nicht.
„Western Deep“ übt sich, obschon an der Grenze von Experiment, Essay und Reportage angesiedelt, in ähnlichen Effekten, wie sie das Kino der Überwältigung, das Actionkino aus Hollywood, anstrebt: Der knapp halbstündige Film zielt nicht allein auf den Sehsinn des Zuschauers, er zielt auf den ganzen Körper. Der soll spüren, soll erleben, was sich an Schrecken auf der Leinwand entfesselt. Was „Western Deep“ von Filmen wie „Independence Day“ oder „Star Wars“ unterscheidet, ist das Moment der Wiederholung, der Dauer: Nicht Geschwindigkeit und Bewegung überwältigen bei McQueen, sondern die Aufkündigung von Orientierung im Filmbild – und dies eben nicht nur in den Augenblicken der Action, sondern fortwährend. Problematisch ist diese Unmittelbarkeit, insofern sie den Ausstellungsbesucher einem Minenarbeiter anverwandeln möchte, als ließe sich die Differenz zwischen der einen und der anderen Welt tatsächlich für die Dauer des Films aufheben. CRISTINA NORD
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