: Kompromiss statt Utopie
Knapp ein Jahr nach der Zerstörung des World Trade Centers liegen sechs Modelle für den Neubau vor, aber keines wird der Größe der Aufgabe gerecht
von HENRIKE THOMSEN
Es war die größte Bürgerversammlung, die New York je erlebte. Zwischen 4.000 und 5.000 Menschen fanden sich am Samstag in einem Kongresszentrum zusammen, um die Zukunft von Ground Zero zu debattieren. Sechs Architekturmodelle demonstrieren, wie die Stätte des ehemaligen World Trade Centers aussehen könnte. Es ist die historisch sensibelste Stelle New Yorks, wenn nicht gar der gesamten Vereinigten Staaten.
Die Entwürfe stießen auf heftige Kritik. Keiner der öffentlich in Auftrag gegebenen Vorschläge enthält symbolisch kühne Bauten, die die tragischen Ereignisse des 11. September reflektieren könnten. Die große Mehrheit der Kongressteilnehmer aus allen sozialen Schichten hätte sich ein mutigeres, innovativeres Design gewünscht. Durchgesetzt hat sich aber die Handschrift von Politikern, Verwaltungsbehörden und Investoren, die auf eine rasche Wiederbelebung des Financial District drängen.
Die Modelle waren von der Kommission für die Wiederentwicklung Lower Manhattans in Auftrag gegeben worden. Sie stellte fest, dass die Aufräumarbeiten kürzer dauern würden als geplant – und lobte zusammen mit den Port Authorities von New York und New Jersey einen Wettbewerb für die Koordination eines Masterplans aus. Das siegreiche New Yorker Architekturbüro Beyer Blinder Belle, das sich zuvor mit der Restauration der Grand Central Station profiliert hatte, muss bis Ende des Jahres ein umfassendes Konzept erarbeiten. Es umfasst die Neuanlage von Straßen, U-Bahnen, Verkehrswegen, Grünanlagen, Bürotürmen, Geschäftszonen und kulturellen Einrichtungen. Einbezogen ist nicht nur die 65.000 Quadratmeter große Fläche, auf denen die Türme direkt standen, sondern auch das umliegende Viertel.
Enger Spielraum
Schon bis Ende Juli verlangten die Auftraggeber sechs Modelle, anhand derer man sich einen ersten Eindruck von den Plänen verschaffen könnte. Eine lange Liste von Vorgaben engte den Spielraum der Architekten von vornherein ein. So mussten sie den Bau von 10,2 Millionen Quadratmetern Bürofläche, 560.000 Quadratmetern Einkaufsfläche und 800 Hotelzimmern konzipieren. Museen und ein neues Theater für die New York City Opera waren erwünscht. Unerlässlich war ein neuer Bahnhof für die rund 100.000 Pendler, die das WTC vor den Anschlägen täglich mit U-Bahn und S-Bahn passierten. Als vornehmste Pflicht aber galt ein großzügig bemessener öffentlicher Park mit einem Denkmal.
Alle sechs Entwürfe setzen diese Anforderungen um, indem sie vier bis sechs Bürotürme von geringer Höhe, Einkaufspassagen, Museen und Übergänge zum Bahnhof respektvoll um eine Grünfläche herum gruppieren. Der Park mag zwar jeweils unterschiedlich groß konzipiert sein, mal als viereckiger Platz, mal als lang gestreckte Promenade angelegt, doch in allen Fällen dominiert er die Anlage gegenüber den Gebäuden.
Alle Plänen wollen zumindest teilweise das Straßenraster wiederherstellen, so wie es vor dem Bau des World Trade Centers bestanden hatte. Um die riesige Grundfläche für die Türme zu schaffen, hatte man Ende der Sechzigerjahre die Greenwich Street unterbrochen. Die alte, lebendige Nord-Süd-Achse endete plötzlich abrupt an der World Wide Plaza. Die Straße soll in ihrem alten Verlauf wieder entstehen, genau wie die in West-Ost-Richtung verlaufende Fulton Street.
Ein weiteres Vermächtnis autofreundlicher modernistischer Plannung, die siebenspurige West Street auf dem Ufer des Hudson, soll nach den Wünschen der meisten Planner teilweise unterirdisch geführt werden. So könnte das Wohnviertel Battery Park, das die Stadtautobahn bisher abtrennt, mit dem neuen Büro- und Geschäftszentrum verbunden werden. Die geschätzten Kosten für die Unterführung liegen jedoch bei bis zu zwei Milliarden Euro. Ob sie aufgebracht werden könnten, ist angesichts der angespannten Finanzlage der Stadt eher unwahrscheinlich.
Namhafte Architekten
Bei näherem Hinsehen lassen sich trotz der Einheitlichkeit der anonym präsentierten Modelle einige Unterschiede erkennen – darunter spezifische Ideen namenhafter New Yorker Architekten, von denen die Pläne offensichtlich inspiriert sind. Das erste Modell namens „Memorial Plaza“ erinnert an die Vorschläge des Büros Cooper Robertson & Partners, das der Pächter des zerstörten World Trade Centers, Larry Silverstein, direkt nach dem Unglück mit einer Neukonzeption des Geländes beauftragt hatte. Cooper Robertson dachte an eine Reihe einzeln stehender Türme entlang der Greenwich Street, die an die perlenartig aufgereihten Bürogebäude an der Sixth Avenue erinnern würden. Dieser Plan nimmt auf das großflächige Design der Moderne, wie es die Twin Towers verkörperten, immerhin Bezug.
Ganz anders dagegen der Entwurf Nr. 5 namens „Memorial Park“. Er erinnert an die klassizistische Wohnarchitektur am Central Park. Jedes Gebäude respektiert streng die Straßenverläufe und zitiert die Quaderform der frühen amerikanischen Hochhäuser. Der fünfte Entwurf könnte daher sehr gut auf die Ideen Alexander Garvins zurückgehen, einem der führenden Architekten des retrospektiv an der Stadt des 19. Jahrhundert orientierten „New Urbanism“.
So brav die Modelle die an sie gestellten Anforderungen erfüllen, so enttäuscht zeigten sich Stadtplanner, Architekturkritiker, Bürgerinitiativen und Angehörige der Anschlagsopfer. „Suchen Sie hier nicht nach Ideen, die die historische Größe der Katastrophe des letzten Jahres reflektieren“, so der Architekturkritiker der New York Times, Herbert Muschamp. Bisher habe die Kommission nichts unter Beweis gestellt „als ihre atemberaubende Entschlossenheit, klein zu denken“.
Zwar gab es in den letzten Monaten einige Ideenwettbewerbe bei dem Galeristen Max Protetch oder im New Yorker, bei denen führende Architekten und Künstler wie Daniel Libeskind, Zarah Hadid, Jenny Holzer und Art Spiegelman ihre Visionen entwickelten. Doch die Anstöße drohen ungenutzt zu verhallen. Der langjährige Kritiker des New Yorker, Paul Goldberger, führt dies vor allem auf das Tempo der Entwicklungen zurück. „Wenn die Originalarchitektur des World Trade Centers den großen amerikanischen Irrglauben der Sechzigerjahre demonstrierte, nämlich den Irrglauben an die schiere Größe, dann demonstriert der aktuelle Druck unseren Irrglauben ab den Neunzigerjahre an die schiere Geschwindigkeit“, sagt er.
Planer und Angehörige empfinden es als pietätlos, dass nur die Hälfte der Modelle den Grundriss der alten Türme respektiert. Zumindest die Fläche, auf der einst der Südturm stand, soll nach den Wünschen vieler Teil des Gedenkparks werden und frei begehbar bleiben. Dass er einigen Entwürfen zufolge überbaut werden soll, wird als allzu großer Kompromiss an Investorenwünsche gedeutet.
Breite Diskussion
Die Wiederaufbaukommission und New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg ruderten angesichts dieser Kritik vorsichtshalber zurück. Es handele sich bei den Plänen nur um „Denkanstöße“, beteuerten sie. Weiteren Entwürfen, Empfehlungen und einer breiten kritischen Diskussion stehe nichts im Wege. Am Rande des Kongresses kündigte ein Sprecher am Wochenende an, über eine Verkleinerung der Büro- und Ladenflächen zugunsten der Gedenkstätte nachzudenken.
Dazu jedoch brauchen die Behörden den guten Willen von Larry Silverstein und seinem Co-Investor Westfield, die sich bisher das Recht vorbehalten können, die Kapazität der Ladenflächen im Vergleich zum alten World Trade Center sogar um ein Drittel auszubauen. Dem Sprecher zufolge könnte auch der Zeitplan für die Suche nach dem endgültigen Design um ein bis drei Monate verlängert werden. Bisher galt Ende September als Deadline. Trotz allem stellen die sechs Modelle einen ernst gemeinten Schritt in die Zukunft von Ground Zero dar. Diese Zukunft kennt keine Utopien, aber jede Menge Kompromisse.
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