Überzeugte Mentalitätsanrainer

Berlin ist die Hauptstadt der schlechten Stimmung – auch wenn auswärtige Gäste es hier freundlich und tolerant finden. Warum? Eine Taxigeschichte

Auf dem Rücksitz thront ein weißer Pudel, seine Ohren schlackern im Wind

Morgens lese ich im Wirtschaftsteil einer großen Zeitung, dass die Geschäfte des Taxigewerbes ein guter Indikator für die allgemeine wirtschaftliche Lage sind. Wenn Taxifahrer schlechte Umsätze machen, bedeutet das demzufolge: Rezession.

Das kann ich bestätigen. Die momentane Krise begann nach dem 11. September, entwickelte sich gut im Herbst, holte im Dezember kurz Luft, gedieh bestens im Januar, wuchs sich im Februar zur Depression aus und stagniert seitdem auf hohem Niveau. Monate geht das so. Kürzlich sah ich bei einem Kollegen einen Aufkleber, der aus noch besseren Zeiten stammt: „Fahr Taxe und relaxe“. Ich entdeckte den Spruch, nachdem ich schon eine Stunde am Halteplatz gewartet hatte, und wunderte mich, wie der Kollege seinen Humor behält. Immerhin musste ich auch etwas schmunzeln.

Mittags treffe ich zufällig einen Bekannten, der eine Weiterbildung zum Wirtschaftsingenieur macht. Wir trinken einen Kaffee und diskutieren die schlechte Wirtschaftslage. Er erzählt vom Bankrott seiner alten Firma, weil der Chef nicht gut rechnen konnte. Ich berichte von den auswärtigen Mentalitätstrainern und Wirtschaftssanierern, die sich über unmotivierte und schlecht ausgebildete Berliner Arbeitskräfte beklagen.

Der Bekannte nickt mit dem Kopf und zeigt auf eine Bushaltestelle: „Schau dir die Haltestellen an. Du findest keine, die nicht beschädigt oder verschmiert ist. Die Leute zerstören den Raum, in dem sie leben, weil sie unzufrieden sind.“ Wir spotten noch ein wenig über die einstigen Metropolenträume und sind uns einig: Die Berliner Stimmung ist noch schlechter als die allgemeine Stimmung.

Der Tag hat sich wetterlich gut entwickelt. Am frühen Abend döse ich in einer Seitenstraße des Ku’damms, als eine dicke Frau im bunten Blumenhemd einsteigt. Ihre Haare türmen sich irgendwie auf dem Kopf und sie trägt eine riesige, mondäne Sonnenbrille. So stelle ich mir eine Operndiva vor. Ein Mann ist auch dabei. Er setzt sich zu mir nach vorne. Er hat ein freundliches Gesicht sowie eine warme und würdevolle Ausstrahlung, wie sie manch älteren Menschen zu Eigen ist, die im Leben etwas gemeistert haben. Das Paar will gern ins Westend.

Ich bin sehr müde und fahre schweigsam, während die beiden sich in einer mir fremden Sprache angeregt unterhalten. Irgendwann fragt mich der Mann auf Deutsch, in welchem Stadtteil wir uns gerade befinden, und so kommen wir ins Gespräch. Ich erfahre, dass sie einen Teil ihrer Zeit in Budapest, ihrer Heimatstadt, verbringen und den anderen Teil des Jahres in Berlin. Ich frage, ob Berlin ihnen gefällt. Er antwortet: „Ja, oh ja, Berlin ist eine sehr offene Stadt. Sehr tolerant. Man wird als Ausländer sehr freundlich behandelt. Es ist die am wenigsten deutsche Stadt in Deutschland.“

Als er das sagt, lächelt er und hält kurz inne, wohl um zu schauen, ob ich dieses Kompliment annehmen kann. Dann fährt er fort: „Vor allem, im Vergleich zu Budapest ist es eine richtige Großstadt, mit einer sehr guten Stimmung.“ Ich bin etwas beschämt von seiner Lobeshymne und komme mir wie ein Spielverderber vor, als ich sage: „Ja, aber nicht überall ist die Stimmung so gut wie in Charlottenburg.“ – „Ach ja?“, fragt er freundlich nach. In diesem Moment lacht die Frau hinter uns laut los und zeigt nach draußen auf die Straße. Auch er lacht nun. Ich versuche den Grund des Gelächters zu erkennen, aber ich sehe nur ein Cabrio vorbeifahren. Machen sie sich etwa über den Cabriofahrer lustig? Aber nein, das kann nicht sein, es ist ein freundliches, kein hämisches Lachen.

Der Mann, um sich für die Unterbrechung des Gesprächs zu entschuldigen, deutet noch einmal auf das Cabrio und sagt: „Sie mögen es so, wenn sie den Wind spüren.“ Jetzt entdecke ich es auch. Auf dem Rücksitz thront ein stolzer, weißer Pudelhund, der seine Ohren glücklich im Wind schlackern lässt.

Ich denke mir, dass das schöne Wetter und die gute Laune der beiden unabhängig von der allgemeinen, ernsten Lage zu betrachten sind, und führe, obwohl ich mir schon miesepetrig vorkomme, einige Gründe für schlechte Berliner Stimmungen an: „Zum Beispiel, die einfachen Leute von Westberlin haben durch den Mauerfall viel mehr verloren, als sie gewonnen haben – ihre Besonderheit, ihre Ruhe, ihre Arbeit. Und im Osten haben sie jetzt zwar Reise- und Redefreiheit, wissen aber oft nicht, was sie damit anfangen sollen. Alle zusammen kommen mit der Offenheit und Internationalität, von der Sie so schwärmen, gar nicht gut klar.“ Der Mann neben mir lächelt und reagiert ruhig: „Es kommt immer auf den einzelnen Menschen an.“

Er sagt das so, als sei es nicht irgendein Allgemeinplatz, sondern eine ganz besondere Weisheit. Ich sehe ein, dass es keinen Sinn macht, ihm von schlechter Stimmung zu erzählen, also frage ich ihn, warum er überhaupt in Berlin ist. Er ist Schriftsteller, sagte er, und sein deutscher Verlag ist in Berlin. Wir sind am Ziel angelangt. Er bezahlt und ich frage ihn nach seinem Namen. Er sagt: „Imre Kertész“.

Von Imre Kertész habe ich zwei Bücher zu Hause. Seinen „Roman eines Schicksallosen“, in dem er Auschwitz aus der Sicht eines Kindes schildert. Kertész ist selbst als 15-jähriger Junge ins Konzentrationslager gebracht worden. Das andere Buch ist das „Galeerentagebuch“, eine düstere, philosophische Erforschung des geistigen Raumes nach Auschwitz. Beim Herumlesen in diesem Buch habe ich immer einen schwer leidenden Menschen vor Augen gehabt und bin darum sehr überrascht, dass dieser gut gelaunte Mann der Autor ist. Ich sage zu ihm: „Es freut mich, dass es Ihnen so gut geht.“ Er lacht wieder, während er mir zum Abschied die Hand gibt, und sagt: „Ja, meine Bücher sind traurig, aber ich bin heiter.“

FELIX HERBST