: Zum Beispiel Marian S.
Jahrelang war Marian S. überzeugt, dass er den Krieg am Meer verbracht hat. Zusammen mit seinen Eltern, die Zwangsarbeit auf einem deutschen Gut leisten mussten. Zwar hat er das Meer nie gesehen, weil es hinter dem Hügel lag, aber manchmal hörte er das Tuten der Schiffe. „Schwarzenhof“ hieß das Dorf.
Wo genau der Ort lag, hatte sich der Elektriker aus Nowa Huta nie überlegt. Dokumente aus der Zeit gab es keine. Als polnischen Zeitungen 1999 berichten, dass nun doch eine kleine Entschädigung möglich ist, will Marian S. nichts davon wissen. Er war vier Jahre, als die Eltern und er Ende 1939 nach Deutschland deportiert wurden. Erst als ein Bekannter mehrere „Schwarzenhofs“ in Deutschland findet, von denen allerdings keines am Meer liegt, beginnt er sich für seine Kindheit zu interessieren.
Martin S. findet heraus, dass zwei Schwarzenhofs in der Nähe großer Seen und Kanäle liegen. Er schreibt an die Stiftung, die in Polen die Anträge bearbeitet. Auch wenn er nichts bekommen sollte, vielleicht kann er herausfinden, wo die Eltern fünf Jahre ihres Lebens verloren haben. „Ich erinnere mich“, schreibt er, „dass der Eigentümer ein hochgewachsener Offizier war. Zum Gut gehörte ein Schloss. Im Dorf gab es ein Kriegsgefangenenlager für Russen, Franzosen und Italiener. Die gaben uns Kindern manchmal Bonbons.“
Marian S. schickt Anfragen ans Rote Kreuz und den Internationalen Suchdienst – doch die Antwort ist stets gleich: „Keine Dokumente vorhanden.“ Auch die Stiftung antwortet und fügt eine lange Adressenliste von Stadtarchiven in Deutschland an. Wieder setzt sich Marian S. an den Schreibtisch. Endlich bittet eine Frau Severin vom Landratsamt Waren am Müritzsee in Mecklenburg um weitere Details. Am Ende ist sicher: Marian S. hat den Krieg in Mecklenburg am Müritzsee verbracht. Doch Dokumente finden sich nicht. Dafür scheint es nur eine Erklärung zu geben: Kurt Hermann, der damalige Eigentümer des Gutes, war ein Freund von Hermann Göring. Einem Freund Görings aber war es ein Leichtes, sich ein paar Zwangsarbeiter „schwarz“ zu besorgen, sie nicht anzumelden und so die Versicherungsbeiträge zu sparen. GABRIELE LESSER
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