piwik no script img

Der Blick ins Offene

Nach vier Wochen Leben im Plattenbau sind sich die Künstler von „Dostoprimetschatjelnosti“ in Hellersdorf sicher: „Wir sind Teil einer neuen Bewegung“. Und die findet an der Peripherie statt

von UWE RADA

Es gibt Architekten, die diskutieren dieser Tage nicht im ICC über die „Ressource Architektur“, sondern draußen in Hellersdorf, am östlichen Rand der Stadt. Und sie diskutieren nicht nur mit ihresgleichen, sondern mit all den anderen Künstlern und Künstlerinnen aus 17 Ländern, die seit Juni in einem Elfgeschosser an der Hellersdorfer Straße 173 leben und arbeiten. Neues Leben in leerer Platte, das ist nicht theoretischer, sondern ganz praktizierter Umgang mit der Ressource Architektur.

Keine weiß dies besser als die Baugeschichtlern Simone Hain, die früher nicht nur in Marzahn gelebt, sondern mit ihren Studenten an der HfbK in Hamburg soeben ein Projekt über Hoyerswerda beendet hat. Die fünfzig Künstler luden Hain deshalb am Dienstagabend nach Hellersdorf, weil sie einmal wissen wollten, in welchem Kontext sie leben – baugeschichtlich, ideengeschichtlich und ganz real.

Es war freilich weniger Hains weit gespannter Vortrag über „Modernism and Emptiness“, der diesen Abend ex post zu einer neuen Etappe der Inbesitznahme der Platte durch die „Generation Alex“ machen könnte, sondern die Selbstwahrnehmung der Akteure. „Dostoprimetschatjelnosti“ – „Sehenswürdigkeiten“ – heißt ihr Selbstversuch für einen Sommer, und mittlerweile hat sich herauskristallisiert, welche Sehenswürdigkeiten und Ansichten damit gemeint sind.

„Wer heute nach Nischen und Freiräumen sucht“, sagt ein junger Deutscher, „findet die nicht mehr in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, sondern in der Platte.“ Dieser Bautyp, ist er überzeugt, eröffne neue Räume, schließlich sei er der marktwirtschaftlichen Verwertung inzwischen entzogen, so wie seinerzeit die Altbauten in den Gründerzeitquartieren.

Ist der zunehmende Leerstand – in Hellersdorf beträgt er 14 Prozent – für die einen der Beweis für das Ende der städtebaulichen Utopien der Moderne, wollen die anderen den Gegenbeweis antreten. Und siehe da: Die Hellersdorfer Straße 173 funktioniert. Überraschend flexibel ist der Grundriss, wenn man nur einige Zwischenwände entfernt, charmant der Gedanke, in der Mitte des Gebäudes – vertikal gesehen, versteht sich – die Piazza, den Veranstaltungsort samt Gemeinschaftsküche anzusiedeln.

Der Geschmack von Abenteuer und Plenumsdebatten, so lautet eine der Ansichten von Dostoprimetschatjelnosti, ist nicht länger auf Gemeinschaftsräume unter Stuckdecken beschränkt.

Dass Hellersdorf weit weg ist, haben alle gewusst. Doch mittlerweile fragen sich einige: Weit weg wovon? Von Mitte, Kreuzberg oder Friedrichshain? Oder vom warmen Wasser, das es in der Hellersdorfer 173 nicht gibt? „Von draußen betrachtet“, sagt eine Argentinierin, „sieht manches anders aus.“ Wie zum Beweis hängt am schwarzen Brett ein Zettel zum geplanten Ausflug nach Polen. Dort gebe es, steht da, sogar heißes Wasser.

Aber auch die Perspektive von drinnen nach draußen ist anders an der Peripherie. Von den Balkons geht der Blick ins Weite, ins Offene. Horizont ist da, im Wechsel mit den anderen Plattenbauten, vielleicht sogar Freiheit? „Wir haben uns bewusst für Hellersdorf entschieden“, sagt einer: „In der Innenstadt ist Peripherie schon Pop.“ Draußen jedoch ist sie echt, so echt wie die Jugendlichen, die immer wieder zu Besuch kommen, und manchmal, weil sie es nicht anders kennen, „Fidschis“ sagen. „Draußen“ ist auch abseits der politisch korrekten Regeln und urbanen Codes.

Dass dieses „draußen“, die Peripherie, ein Thema ist, war auf der Diskussion am Dienstagabend allgegenwärtig, nicht nur in den Fragen nach dem Wohnungsbau in China oder der Zukunft der industriellen Regionen der ehemaligen Sowjetunion.

Und auch für die alten Zentren ist die Peripherie nicht mehr weit, wie es die schrumpfenden Städte in Europa und nicht zuletzt der Leerstand in Hellersdorf zeigen. „Wir wissen nicht, was sich hier ändert, wir wissen nur, dass wir vor großen Veränderungen stehen und dass sie hier draußen stattfinden werden“, sagt einer am Ende des Abends. „Da wollen wir dabei sein.“

Vorerst dauert dieses „Dabeisein“ nur einen Sommer, doch die Bewegung, meint einer der Initiatoren des Projekts von der Kunsthochschule Weißensee, sei nicht mehr aufzuhalten. Unten, am Hauseingang, hängt ein Plakat, das diesen Optimismus, zu den Pionieren einer neuen sozialen und städtebaulichen Bewegung zu gehören, ironisiert: „Was wir machen, hat keine Zukunft.“

Am 2. August ab 17 Uhr feiern die Künstler ihr Bergfest.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen