: Litauen spielt radverrückt
Mit 30 Jahren bestreitet der litauische Radprofi Raimondas Rumsas seine erste Tour de France und mischt sofort in der Spitzengruppe mit. Dario Frigo gewinnt 17. Etappe, Armstrong bleibt gelb
aus Cluses SEBASTIAN MOLL
Raimondas Rumsas ist höflich und ein wenig scheu. Der weißblonde Radprofi schaut auf den Boden, während er bedächtig in fließendem Italienisch auf die Fragen der Reporter antwortet. Er ist es nicht gewohnt, dass sich Journalisten für ihn interessieren – überhaupt nicht gewohnt, dass sich irgendwer für ihn interessiert. Doch in den letzten Tagen interessieren sich viele für den Litauer, denn er liegt auf Rang drei bei der Tour de France.
In seiner Heimat ist seit vergangener Woche plötzlich Radsport ein Thema, die Leute verfolgen täglich auf Eurosport, wie Rumsas ohne nennenswerte Mannschaftsunterstützung am Hinterrad von Lance Armstrong durch die Alpen und die Pyrenäen fährt. Kein einziger litauischer Journalist war zur Tour gekommen, weil niemand Rumsas auf der Rechnung hatte, doch jetzt rufen sie ständig bei ihm an.
Rumsas selbst war vielleicht der Einzige, der an einen solchen Erfolg geglaubt hatte, möglicherweise noch sein Fanclub aus Marlia, seinem Wohnsitz in der Toskana, wo er mit seiner Frau und seinen drei Kindern Raimondas, Linas und Rasa lebt. „Immerhin“, verweist er, „war ich im Jahr 2000 schon Fünfter bei der Spanien-Rundfahrt und habe den Herbstklassiker Lombardei-Rundfahrt gewonnen.“
Schon damals habe er geahnt, dass er bei der Tour einmal eine Rolle spielen könnte. Das Problem war jedoch, eine Mannschaft zu finden, die ihn mitnimmt zur Tour. Bei seinem damaligen Team, Fassa Bortolo, war er in Ungnade gefallen, weil er seinen Sieg bei der Lombardei-Rundfahrt gegen den Willen der Mannschaftsleitung errungen hatte. Gewinnen sollte Kapitän Francesco Casagrande, und dass Rumsas einfach an diesem vorbeifuhr, brachte den Italiener und Teamdirektor Giancarlo Ferretti gegen ihn auf. Deshalb wechselte Rumsas zu Lampre, auch eine große italienische Mannschaft, die dankbar war für einen so guten Rundfahrer.
So kam er im Alter von 30 Jahren erstmals zur Tour de France und will nun durchstarten aufs Siegerpodest. 3:35 Minuten beträgt nach der gestrigen Alpenetappe von Aimé nach Cluses, die der Italiener Dario Frigo gewann, sein Vorsprung vor dem Kolumbianer Santiago Botero, der sich auf Rang vier vorschob. Das sollte reichen für einen so guten Zeitfahrer wie den Litauer. Beim Rennen gegen die Uhr auf der 9. Etappe war er Sechster geworden, nur 27 Sekunden langsamer als der Sieger Botero, und kann beim morgigen Zeitfahren über 50 km sogar nach Joseba Belokis zweitem Platz trachten.
Als Grund, warum er erst so spät in seiner Laufbahn seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zeigt, gibt er an, dass er vorher schlicht keine Chance bekommen habe. Mit 13 hatte Rumsas in seinem Heimatdorf, der 500-Seelen-Gemeinde Schigali, mit dem Radfahren begonnen. Auf Anhieb wurde er Regionalmeister und vom Bauernhof seiner Eltern in die Sportschule Panyeivezys berufen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war er froh, überhaupt für Geld Radfahren zu dürfen, und heuerte deshalb bei der drittklassigen polnischen Mannschaft Mroz an. Dem Team, das von einem Wurstfabrikanten finanziert wird, blieb er treu bis 1999. Bis dahin hatte er nur bei zweitklassigen Rennen getingelt, die Friedensfahrt durch Polen, Tschechien und Ostdeutschland war der Saisonhöhepunkt.
1999 interessierten sich jedoch plötzlich gleich mehrere erstklassige Teams für ihn. Neben Fassa Bortolo fragte auch Armstrongs Mannschaft US Postal bei ihm an. Das, glaubt Rumsas, sei wohl auch der Grund, warum Armstrong vor der diesjährigen Tour als einer der wenigen darauf getippt hatte, dass Rumsas zu den besten Fahrern zählen würde. „Sein sportlicher Leiter, Johan Bruyneel, wird ihm von mir erzählt haben“, glaubt Rumsas. Was für Bruyneels Gespür für Talente spricht. Doch Rumsas ging lieber nach Italien, das ihm zweite Heimat geworden ist. „Meine Kinder wachsen dort auf“, sagt er, und „wenn ich aus Italien weggehe, dann nur wieder zurück nach Litauen.“
Obwohl der Durchbruch für Rumsas spät kommt, glaubt er nicht, dass es zu spät für ihn ist. „Ich habe noch ein paar Jahre vor mir“, sagt er. Und trotz seiner zurückhaltenden Art ist er sicher, dass er mit seinem dritten Platz noch nicht am Ende seiner Möglichkeiten angelangt ist: „Warum sollte ich nicht von einem Tour-Sieg träumen? Man muss doch hoffen!“ Derzeit, glaubt er zwar, sei Armstrong „unschlagbar. Für mich jedenfalls.“ Doch warum soll sich das in Zukunft nicht ändern. Ein Grund, warum er nicht an Armstrong heranreiche, meint Rumsas, sei, dass er keine starke Mannschaft in den Bergen hat, so wie Armstrong oder Beloki. Sein Vertrag bei Lampre läuft jedoch zum Ende dieses Jahres aus. Und nach dieser Tour wird Rumsas in einer sehr guten Verhandlungsposition sein.
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