: Statistik als Fetisch
Wie mit Wirtschaftsdaten immer wieder Politik gemacht wird
Ein Wort beherrscht die wirtschaftspolitische Diskussion in Deutschland. Das Wort heißt „Schlusslicht“. Deutschland ist „Schlusslicht“ in Europa bei den Wachstumszahlen, „Schlusslicht“ bei der Verminderung der Arbeitslosigkeit. Die steigenden Arbeitslosenzahlen und die niedrigen Wachstumsraten sind zum Fetisch geworden, um den auch die Sozialpolitik kreist.
Die Arbeitslosenzahlen sind in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich gestiegen, aber zu Beginn von Schröders Regierungszeit auch schon mal gesunken. Den größten Sprung machten sie zu Zeiten der Regierung Kohl. So lag im Jahr 1992 die durchschnittliche Arbeitslosenzahl bei knapp 3 Millionen. Sie stieg dann auf 4,4 Millionen im Jahr 1998. Nach dem rot-grünen Regierungswechsel sank die Zahl auf weniger als 3,9 Millionen im Jahr 2001. Für dieses Jahr wird ein Durchschnitt von knapp unter 4 Millionen erwartet. Es lässt sich also keinesfalls eine klare Korrelation zwischen einer Regierungspolitik und der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen herstellen.
Auch die Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt entwickelten sich wechselhaft. Im Jahre 1996 beispielsweise, also zu Zeiten der Kohl-Regierung, lag die Wachstumsrate schon mal bei 0,8 Prozent. Mit dem gleichen Wert rechnen Experten für dieses Jahr. Die Regierung Schröder verzeichnete im Jahr 2000 mit 3 Prozent eine vergleichsweise hohe Rate, musste sich im vergangenen Jahr aber mit 0,6 Prozent begnügen. Auch hier lässt sich also kein klarer Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Wachstums und der Politik herstellen.
Die CDU/CSU-Fraktion verweist im gegenwärtigen Wahlkampf gerne darauf, dass die Wachstumsraten Deutschlands im europäischen Vergleich sehr niedrig seien. Das war allerdings in den letzten sechs Jahren der Regierung Kohl nicht anders – auch da lagen die deutschen Wachstumsraten unter dem EU-Durchschnitt. Erst kürzlich kam ein Gutachten der EU-Kommission zu dem Schluss, dass die schlechte Entwicklung vor allem auf die Folgen der Wiedervereinigung zurückzuführen sei. Auch schon zu Zeiten der schwarz-gelben Regierungskoalition wurde die „German Disease“ beklagt, das angebliche Kranken des einstigen Vorbilds Deutschland an einem zu starren Arbeitsmarkt und zu viel Bürokratie.
Im Rahmen der internationalen Rankings spielen Wachstums- und Arbeitslosenzahlen eine große Rolle. Doch interessanterweise gibt es keine Statistik, die international vergleichbare, leicht handhabbare Daten zur sozialen Sicherung erhebt. Das gibt zu denken. BD
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