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Minimum für alle

Die Menschenrechte sind längst zum Fetisch der Politik geworden. Michael Ignatieff setzt dagegen seinen Essay

Menschenrechte sind längst nicht mehr schlicht Gegenstand der Politik, sie sind zum Fetisch geworden – so die These im Essay des englischen Publizisten Michael Ignatieff. Zu Fetischen werden Menschenrechte, wenn sie in der politischen Rhetorik von der „Würde des Menschen“ bis zur „Heiligkeit des Lebens“ mit ungeklärten und unklärbaren anthroplogischen Hintergrundannahmen zu „Werten“ aufgeladen werden, die politisch, religiös und sozial spaltend wirken. Menschenrechte sind jedoch primär keine wie auch immer fundierten „Werte“, sondern Rechte. Diese formulieren Ansprüche von Individuen gegenüber politisch Herrschenden, gesellschaftlich Dominierenden und wirtschaftlich Mächtigen.

Die Menschenrechte sind auch keine „weltweite säkulare Religion“ (Elie Wiesel). Dem widerspricht Ignatieff zu Recht mit dem Hineis auf die Folgen: „Die Menschenrechte … sind kein Bekenntnis; sie sind keine Metaphysik. Wer sie dazu macht, macht sie zu einem Fetisch: Der Humanismus verabsolutiert sich selbst“ und bewirkt damit genau das Gegenteil seiner Intentionen. Er weckt Zweifel und Ressentiments bei religiösen und nicht westlichen Gruppen, die eines säkularen Bekenntnisses nicht bedürfen.

Die Menschenrechte beruhen also nicht auf einem philosophisch oder religiös geprägten Weltbild, sondern auf historischen Erfahrungen – insbesondere jenen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Die Erfahrungen unvorstellbarer Gewalt, kulminierend in Diktaturen sowie kommunistischen Arbeits- und nationalsozialistischen Vernichtungslagern, vermitteln eine einzige Lehre, die mit einer ganz pragmatischen Begründung auskommt: Menschen brauchen gegenüber der Rücksichtslosigkeit politischer Machthaber und wirtschaftlicher Ausbeutung minimale unverzichtbare Rechte. Insofern ist die Deklaration der Menschenrechte nicht als „Ausdruck der Überlegenheit der europäischen Zivilisation“ zu sehen oder als Versuch, der Welt den American Way of Life zu diktieren, sondern als eine aus Erfahrung klug gewordene Warnung, um historische „Fehler nicht zu wiederholen.“

Dank dieser schlanken historisch-pragmatischen Begründung sind Menschenrechte in ganz unterschiedlichen politischen und kulturellen Kontexten akzeptabel, weil sie mit einem Minimum von Normen ein rundum unverzichtbares Ziel für alle Menschen rechtsförmig garantieren und verallgemeinern wollen: den Minimalspielraum eines jeden für eigenverantwortliches und selbst bestimmtes Handeln. Die Menschenrechte schreiben niemandem vor, wie er leben soll, sondern gewähren „den Schutz des Rechts aller Menschen auf eigene Lebensgestaltung“ innerhalb kulturell, sozial und religiös unterschiedlich geprägter Umgebungen.

Die Universalität der Menschenrechte wird u. a. von verschiedenen religiösen Standpunkten aus bestritten. Ignatieff zeigt sehr plastisch, dass nicht authentische Formen des Islams das Problem sind, sondern seine fundamentalistischen Zurüstungen sowie „der verhängnisvolle Kurs westlicher Politik und wirtschaftlicher Globalisierung“. Menschenrechtsnormen proklamieren keinen Krieg gegen traditionsgestützte Ordnungen und Gemeinschaften, sondern bieten allenfalls jenen, die diese Ordnungen und Gemeinschaften als autonome Subjekte nicht akzeptieren, einen rechtlichen Schutz. Nur insofern sind sie einem modernen Individualismus verpflichtet, der jedoch bloß „die universellen Interessen der Machtlosen“ gegenüber Macht, Herrschaft und Tyrannei jeder Art repräsentiert und keinen Kultur- oder Religionskrieg propagiert. Das gilt auch für den Bereich von Arbeit und Wirtschaft. Menschenrechte favorisieren kein Sozialsystem, aber sie schützen Individuen gegenüber deren „entwürdigenden und ungerechten Auswirkungen“ – von der Sklaverei über die Kinderarbeit bis zur Marktwirtschaft. Ignatieff bietet einen grundlegenden Beitrag für zeitgemäße politische Bildung. RUDOLF WALTHER

Michael Ignatieff: „Die Politik der Menschenrechte“, übers. von Ilse Utz, 124 Seiten, EVA, Hamburg 2002, 16 €

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