piwik no script img

„Es herrscht allgemein Unsicherheit“

Was hat der Serienstraftäter „Mehmet“ mit Jugendarbeitslosigkeit zu tun? Er ist das Paradebeispiel für Teens, die bereits mehrere Reparaturmaßnahmen durchlaufen haben, meint der Pädagoge Albert Scherr

taz: Herr Scherr, dem jugendlichen Serienstraftäter „Mehmet“ droht nach seiner Rückkehr nach Deutschland erneut ein Strafprozess. Wie würde sich so ein Verfahren auf die Entwicklung des mittlerweile 18-Jährigen auswirken?

Albert Scherr: Schon die Ankündigung hat negative Auswirkungen. Was die Stadt München und die CSU im Augenblick signalisieren, ist eine ablehnende Haltung „Mehmet“ gegenüber. Dahinter steckt die Aussage: „Wir sind gerichtlich gezwungen worden, ihn wieder reinzulassen, aber eigentlich wollen wir das gar nicht.“ Das ist für diesen jungen Menschen, bei dem man im weitesten Sinne von einer Gefährdung ausgehen kann, das falsche Signal.

Von welcher Gefährdung sprechen Sie?

Da kommt keine unproblematische Persönlichkeit zurück, sondern jemand in einer sehr prekären Situation. Das psychiatrische Gutachten etwa sagt deutlich, dass es weiterhin erkennbare Persönlichkeitsstörungen gibt. Das heißt Bedarf an pädagogischer Hilfe. Ablehnende Haltungen und Vorverdächtigungen sind da eine Erschwernis für seine Entwicklung.

Welche Reaktionen von „Mehmet“ könnten Sie sich vorstellen?

Der Knackpunkt des ganzen Falls ist wohl, ob „Mehmet“ schnell und zügig eine für ihn erkennbare Perspektive aufbaut. Wenn aber die Öffentlichkeit signalisiert, dass er nicht willkommen ist und sogar mit weiteren Prozessen zu rechnen hat, dann nehmen ihn möglicherweise auch Schul- und Ausbildungsbetriebe nicht. Diese Abwehr wäre entscheidend. Die andere Frage ist, wie die Nachbarn, die Eltern, die Medien reagieren. Eine mediale Dauerbeobachtung würde den 18-Jährigen aller Voraussicht nach erheblich verunsichern.

Rechnen Sie mit Trotzreaktionen?

Wie er als konkrete Person reagieren wird, kann niemand vorhersagen. Sicher ist nur, dass „Mehmet“ längst eine virtuelle Persönlichkeit ist, an der eine Generaldebatte über Sinn und Unsinn von Bestrafung ausgetragen wird.

Er hat ja keinen Schulabschluss, will aber nach einer Ausbildung in die Altenpflege gehen. Ist das realistisch?

Auch im Bereich Altenpflege sind die Qualifikationsanforderungen so gestiegen, dass mit einer gebrochenen Schulbiografie schon enorme Schwierigkeiten bestehen, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden. Und was macht er eigentlich nach einer solchen Ausbildung? Generell wird der Aufbau einer halbwegs geordneten Berufsbiografie für Jugendliche zunehmend schwieriger. Das Klima der Unsicherheit, auf das „Mehmet“ trifft, macht ja selbst Gymnasiasten zu schaffen. Ein Jugendlicher braucht einen ganz subjektiven Grund, daran zu glauben, dass er wirklich eine gute Perspektive hat, wenn er in den regulären Bahnen bleibt. Aber die Atmosphäre hier vermittelt allgemein Unsicherheit.

Welche konkreten Angebote gibt es für jugendliche Mehrfachstraftäter wie „Mehmet“?

Auch wenn er jetzt volljährig ist, kann er noch Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen. Das Angebot reicht von betreutem Wohnen über potenzielle Heimunterbringung bis hin zu einer intensiven sozialpädagogischen Einzelfallhilfe. Das kann aber im Augenblick nicht angeordnet werden, denn erstens kann es nur mit seiner Mitwirkung erfolgen und zweitens nur bei einer erkennbaren Gefährdungslage der Entwicklung.

Reichen solche Angebote ?

Prinzipiell ja. Allerdings hat „Mehmet“ bereits eine Reihe von Maßnahmen durchlaufen. Er ist in der Tat ein schwieriger Fall, der keine einfachen Lösungen zulässt. Die Stadt München müsste also die rechtlich gegebenen Hilfsmöglichkeiten voll ausschöpfen – und sollte sie nicht mit dem Verweis auf Geldmittel oder sonstigen Konstruktionen aushebeln.

Ist es sinnvoll, „Mehmet“ in seine alte Umgebung zurückkehren zu lassen?

Das psychiatrische Gutachten empfiehlt keine Rückkehr in die Familie, weil das Verhältnis zu schwierig war und ist, sondern eine Unterbringung in einer offenen Wohngruppe. Ihn ganz zu verpflanzen würde seinem als Erwachsener geäußerten Interesse, nach München zurückzukehren, widersprechen. Das geht aus guten Gründen schon rein rechtlich nicht.

Wie stehen die Chancen zur Resozialisation für jugendliche Mehrfachstraftäter?

Dazu gibt es keine generelle Aussage und sie wäre auch nicht erlaubt. Denn es handelt sich um extrem kleine Fallzahlen. In München gibt es nach Auskunft des Kreisverwaltungsreferenten 38 jugendliche Mehrfachtäter. Man muss also den Einzelfall genau betrachten.

Welche speziellen Probleme gibt es bei einer Rückkehr aus dem Ausland nach dreieinhalb Jahren?

„Mehmet“ muss wieder Anschluss finden an die hiesigen Lebenszusammenhänge. Und er muss sich in das Ausbildungs- und Arbeitsleben integrieren.

Und das kann nur funktionieren, wenn er seine Ruhe vor den Medien hat?

Das ist doch auch bei einem anderen Menschen, der nicht straffällig wurde, nicht anders. Dass Medienpräsenz der Lebensführung nicht gut tut, sieht man ja selbst bei Boris Becker. INTERVIEW: SEBASTIAN SEDLMAYR

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen