Rezepte für Millionen

AOK fordert von einer Ärztin 1,9 Millionen Euro. Die hatte einem bluterkranken Jungen ungewöhnlich hohe Dosen eines Medikamentes verordnet. Zustand des Jungen hatte sich nicht geändert

von PHILIPP GESSLER

Das Gerangel um die Kosten einer angemessenen Behandlung von Patienten wird in der Hauptstadt immer heftiger. Die Krankenkasse AOK fordert von einer Weddinger Internistin die Rückzahlung von 1,9 Millionen Euro. Das bestätigte eine Sprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin. Die Regressforderung wird damit begründet, dass die Praxisärztin einem neunjährigen bluterkranken Jungen im Jahr 2000 über Monate unverständlich hohe Dosen eines teuren Gerinnungsmedikaments verabreicht habe.

Nach Informationen der KV ist die Forderung die höchste, die eine Krankenkasse, zumindest landesweit, bisher erhoben hat. Erst Ende April hatte die KV die endgültigen Forderungen für das Jahr 1998 errechnet. Vor vier Jahren beliefen sie sich für die rund 7.500 Ärzte und „psychologischen Psychotherapeuten“ des Verbandes auf insgesamt 2,2 Millionen Euro. Die Regressansprüche werden von einem Prüfungsausschuss der KV und örtlichen Krankenkassen ermittelt. Diesem Gremium der „Gemeinsamen Selbstverwaltung“ im Gesundheitswesen der Hauptstadt gehören jeweils drei KV- und drei Krankenkassenvertreter an.

Die Dimension der jetzigen Forderung machen die Regressansprüche für das Jahr 1998 deutlich: In diesem Jahr hatte es Schadensersatzforderungen zwischen 108,91 und 750.000 Euro gegeben. Betroffen waren über 70 Ärztinnen und Ärzte. Zwar haben sie die Möglichkeit, vor dem Sozialgericht gegen die Forderungen zu klagen. Diese Klagen haben aber keine aufschiebende Wirkung. Das Gesetz schreibt der KV vor, den Ärzten die geforderte Regresssumme vom Honorar abzuziehen – so lange, bis das Gericht über die Rechtmäßigkeit der Forderung entschieden hat.

Obwohl weder die KV noch die AOK zum laufenden Verfahren weitere Auskünfte erteilen wollen, steht nach Informationen der taz im vorliegenden Fall so viel fest: Die Weddinger Fachärztin für innere Medizin hat einem seit der Geburt von der Bluterkrankheit (Hämophilie) betroffenen Jungen monatlich über 200.000 Einheiten eines Gerinnungsmittels verschrieben. Dabei seien die Experten der Prüfungskommission davon ausgegangen, dass es selbst bei schweren Erkrankungen ausreicht, rund 30.000 Einheiten dieses Medikaments pro Monat zu spritzen – die Ärztin verabreichte also fast siebenmal mehr als üblich. Dennoch erhöhte sie die Monatsmenge noch einmal auf über 500.000 Einheiten.

Trotz der immensen Menge des gespritzten Mittels hat sich der Gesundheitszustand des Patienten jedoch nicht wesentlich verbessert. Zudem soll der kranke Junge zusammen mit seinen Eltern die Medikamente per Rezept bei der Apotheke abgeholt haben – was in diesem Fall ungewöhnlich ist, da die Ärztin das Mittel auch direkt vom Hersteller hätte bestellen können, wo es billiger gewesen wäre. Abgesehen von den hohen Kosten für die Behandlung ist es schließlich fraglich, ob der Junge wegen der hohen Dosierung des Medikaments nicht auch gesundheitlich geschädigt worden sein könnte. Wegen des Verdachts des Betrugs hatte die AOK nach taz-Informationen Strafanzeige gegen die Eltern und den Besitzer einer Apotheke gestellt – das Verfahren wurde jedoch eingestellt.

Es wird also noch dauern, bis die Ärztin an die AOK Geld überweist – wenn überhaupt. Von den Ärzten, die Regressforderungen ausgesetzt sind, hat noch kein einziger gezahlt.