: Kühles Bier, erhitzte Gemüter
Nur 6 Freiluftgäste pro Kneipe im Boxhagener Kiez will das Bezirksamt zulassen, weil Anwohner mit Klage gegen Lärm drohen. Das geht selbst dem Stadtrat zu weit. Nun streiten alle heftig miteinander
von SIMON JAEGGI
Es war Wirtschaftssenator Gregor Gysi, der noch in diesem Frühjahr mehr Freiheit für Straßencafés forderte. Nun ist es Sommer geworden, Gysi ist zurückgetreten, und fast scheint es, als ob mit ihm auch die Toleranz gegenüber lauten Kneipengästen verflogen sei.
In der vergangenen Woche erhielten Kneipiers von der Simon-Dach-Straße und des gesamten Boxhagener Kiezes Post vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Das Amt teilte mit, es plane eine Sonderregelung, um den Kneipenlärm einzuschränken. Künftig dürften Gaststätten ab 20 Uhr nur noch sechs Sitzplätze im Freien betreiben, ab 22 Uhr wäre dann komplett Feierabend für Freilufttrinker. Das Entsetzen bei den Wirten ist groß, die Regelung würde das Ende des belebten Kneipenviertels bedeuten. Denn die Schenken machen 60 Prozent ihres Umsatzes abends zwischen 20 und 22 Uhr.
Doch: Das Kneipentheater nahm gestern erneut eine überraschende Wende. Denn erst am Montag war Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) aus den Sommerferien zurückgekehrt. Die neue Verordnung überraschte selbst Schulz. Das Kneipentheater mache ihn „stocksauer“, habe er doch von den geplanten Einschränkungen nichts gewusst. Laut Schulz wird die Regelung in dieser Form nicht umgesetzt werden, da sie „nicht zweckmäßig ist“.
Schulz glaubte nämlich beruhigt den Urlaub genießen zu können, schließlich zeigten sich im Streit um den Kneipenlärm erste Lösungsansätze. Denn auf Initiative des Bezirksamt fand im Juni zwischen den Anwohnern und den Wirten eine Aussprache am runden Tisch statt. Im Boxi-Kiez schwelt der Konflikt schon lange, die Anwohnerinitiative „Die Aufgeweckten“ beschwert sich seit drei Jahren bei Polizei und Bezirksamt über Lärm- und Geruchsemissionen.
Doch auch die Wirte in der Simon-Dach-Straße streben nach einer neuen Lösung. Denn der zweijährige „Mendiburu-Kompromiss“ galt nur für Kneipen in dieser Straße. Die nach dem ehemaligen Friedrichshainer Bürgermeister Helios Mendiburu (SPD) benannte Kompromisslinie erlaubt den Wirten in der Simon-Dach-Straße an Wochentagen den Ausschank bis 22 Uhr. An Wochenenden dürfen sie ihren Gästen eine Stunde länger Getränke servieren. Doch in den umliegenden Straßen dürfen die Kneipen bis in die Puppen geöffnet bleiben. In diesem Punkt sind sich die Konfliktparteien einig: Es muss sich was ändern. Trotzdem führte die Aussprache im Juni zu keinen konkreten Resultaten, man vereinbarte, sich Mitte August nochmals zu treffen.
„Ich fand, die Ergebnisse seien eine Grundlage zum Weiterarbeiten“, sagt Schulz heute. Doch kurz nachdem er verreist war, drohte der Anwalt der Anwohnerinitiative den Ämtern mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht. „Die Fachämter haben sich beeindrucken lassen und sind eingeknickt“, gesteht der Stadtrat. Die geplante Sonderregelung übertraf sogar die Wünsche der Anwohner: Die Beschränkung auf maximal sechs Außenplätze hatten sie nicht gefordert. Dadurch würden allein in der Simon-Dach-Straße von den 1.222 Außenplätzen gerade noch 132 übrig bleiben.
Die Stimmung in der Kneipenmeile war ohnehin vergiftet: Wirte erzählen, Anwohner hätten sie mit Feuerzeugen beworfen, im Gegenzug sollen Keller der Anwohner voll gepinkelt und Schlösser verklebt worden sein.
Mit dem Vorstoß der Bürgerinitiative nimmt der Streit neue Dimensionen an. Nun organisieren sich auch die Wirte. Letzten Freitag gründeten sie die Initiative „Wir(te) für Friedrichshain“, und etliche Betriebe legten schon Widerspruch beim Bezirksamt ein.
So auch Georg Germer vom „Hundertwasser“. Er ist nicht nur Kneipier, sondern auch Anwohner des umkämpften Kiezes. Er kann die Anliegen der Bürgerinitiative verstehen: „Es ist wirklich ganz schön laut hier“. Germer will mit den Anwohnern über eine gemeinsame Lösung debattieren, „anstatt sich gegenseitig die Augen auszukratzen“.
Michael Näckel, der Sprecher des Interessenvereins „Wir(te) für Friedrichshain“ hält aber nichts von einem weiteren runden Tisch: „Nur emotionales Palaver.“ Er wünscht sich, dass eine kleine Gruppe kompetenter Leute nach einer tragfähigen Lösung sucht. Andere Wirte votieren inzwischen gar für eine Demo. Sprich: Die Wirte liegen nicht nur im Zwist mit den Anwohnern, die Zunft ist auch in sich selbst zerstritten.
Deshalb haben die Wirte für heute ein Treffen vereinbart: Auch sie wollen nun Maßnahmen vorschlagen, die sie morgen der Öffentlichkeit präsentieren werden. Und auch „die Aufgeweckten“ wollen sich am Mittwoch zu den aktuellen Geschehnissen äußern. Die Friedrichshainer Nächte bleiben heiß.
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