: Das Stigma ist gelöscht
Mit dem Gewinn des EM-Titels über 10.000 m wird die Engländerin Paula Radcliffe endlich ihren Ruf als Versagerin bei Großereignissen los und bricht gleich noch den 16 Jahre alten Europarekord
aus München FRANK KETTERER
Von der Läuferin Paula Radcliffe aus Britannien gibt es ein paar ganz schön außergewöhnliche Dinge zu erzählen. Dass sie als Elfjährige ihrem Heimatverein Bedford & County beigetreten ist zum Beispiel, und dass sie für diesen Klub immer noch startet, sogar die Trainer sind die ihrer Kindheit geblieben. Oder von ihrem ersten Rennen über die 10.000 Meter, vor vier Jahren fand das statt – und mit 30:48,58 Minuten legte die schmächtige blonde Frau ein Debüt auf den roten Tartan, wie es noch keiner Läuferin je zuvor gelungen war – Ausdruck ihres unermesslichen Lauftalents. Oder von ihrem Engagement im Kampf gegen Doping, das größer ist als bei den meisten anderen in der Branche. „Man muss etwas machen, um den Zuschauern zu zeigen, dass wir gegen Doping sind“, hat sie einmal gesagt, und die eigenen Worte bei der Leichtathletik-WM im kanadischen Edmonton forsch in die Tat umgesetzt: Nach ihrem Rennen hob sie ein Schild in die Höhe, auf dem die Worte „Epo-Betrüger raus“ gepinselt standen, was als offener Protest gegen die Russin Olga Jegorowa gedacht war, die trotz eines positiven Tests auf das Blutdopingmittel Epo bei der WM starten durfte und schließlich den Titel gewann. Ein Fehler im Testverfahren hatte dies möglich gemacht. Das Schild wurde übrigens sogleich entfernt, ein Ordner nahm es der Läuferin eilfertig ab.
Oder, noch so eine Geschichte über die 28-Jährige, Radcliffes Unvermögen, wirklich wichtige Titel gewinnen zu können. Zweite, dritte und vierte Plätze bei Welt- und Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen hatte die Weltklasseläuferin, die in ihrer Heimat Starstatus besitzt, auf der Bahn in den letzten Jahren wie am Fließband gesammelt, nur mit dem Platz auf der obersten Stufe des Siegertreppchens hatte es einfach nicht klappen wollen. Meist wurde die Engländerin kurz vor dem Ziel von der Konkurrenz überspurtet, die Sache drohte fast schon zum Trauma zu werden für Paula Radcliffe. „Das ist nicht leicht zu verarbeiten“, hatte sie noch bei der WM in Edmonton zugegeben, mal wieder Vierte war sie da im 10.000-m-Rennen geworden.
Am Dienstagabend, bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in München, hat die zierliche blonde Frau aus Bedford dieses Trauma verarbeitet und überwunden, ach was, sie hat es einfach weggefegt – und vielleicht ist das die schönste Geschichte, die man von der Läuferin Paula Radcliffe erzählen kann: wie sie sich im strömenden Regen von München auf und davon gemacht hat, wie sie die 10.000 m Runde um Runde abgespult hat, ganz auf sich alleine gestellt, weil ihr schon bald keine mehr folgen konnte, mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks und mit ihrem unverkennbaren Laufstil, bei dem der Kopf fast so sehr hin und her wackelt wie einst bei Emil Zatopek. Das sieht vielleicht nicht ganz so elegant aus wie bei der Konkurrenz, aber es ist schnell, verdammt schnell. Im Olympiastadion blieben die Uhren jedenfalls bei 30:01,09 Minuten stehen, was nicht nur über eine dreiviertel Minute schneller war als die Zeit der Zweitplatzierten, der Irin Sonia O’Sullivan, sondern auch einen neuen Europarekord bedeutete. Den alten (30:13,74) hielt immer noch Ingrid Kristiansen, 1986 in Oslo hatte die große Norwegerin diesen aufgestellt.
„Mein Hauptziel war der Sieg“, sagte später Paula Radcliffe, die für ihre außergewöhnliche Vorstellung vom Publikum gefeiert wurde trotz des strömenden Regens, weil es eben ihr erster war auf der Bahn bei einer internationalen Meisterschaft dieser Güteklasse. Noch später verriet sie freilich, dass ihr der Rekord schon auch etwas bedeutet. „Darauf habe ich hingearbeitet und darauf habe ich gewartet“, erzählte sie, weil das Stigma, die ewige Zweite zu sein, damit noch nachhaltiger ausgelöscht wurde. Seit Dienstag ist Paula Radcliffe einfach nur noch die Europameisterin und Rekordläuferin.
Und selbst der Weg dorthin gibt eine nette Geschichte ab, weil es ausgerechnet diese Ingrid Kristiansen gewesen war, Radcliffes Vorgängerin als Rekordhalterin, die ihr den entscheidenden Tip gegeben hatte. „Sie hat mir empfohlen, Marathon zu laufen“, verriet Radcliffe, der Empfehlung war sie im April in London nachgekommen. „Das“, erzählte die Britin in München, „hat mich härter gemacht. Ich fühle mich jetzt stärker, in den Beinen und auch im Kopf“. Die 42,195 Marathon-Kilometer müssen wirklich eine prima Schule für die 28-Jährige gewesen sein. Dass sie diese in 2:18:56 Stunden und somit der zweitschnellsten je erzielten Zeit absolviert hat, ist übrigens schon wieder eine ganz andere Geschichte.
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