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Wahlgang in Klein-Berlin

Fabian ist einziger Erstwähler im West-Dorf. Es gibt Dinge, die ihn mehr bewegen.

aus Böckwitz-ZicherieKIRSTEN KÜPPERS

Der grüne Bagger war an einem klirrend kalten Novembertag gekommen. Die Mutter hatte Fabian vom Kindergarten abgeholt, sie sind in die Mitte des Dorfes gelaufen, wo all die anderen schon standen. Die Leute hatten Thermoskannen mit heißem Tee dabei und Wollmützen auf dem Kopf gegen das Frieren. Denn es war klar, dass der Bagger lange brauchen würde für die Mauer. Die Grenze, die das Dorf seit 40 Jahren teilte. Der Bagger hat den Beton dann einfach in gewaltigen Brocken weggerissen, die Menschen sind sich um den Hals gefallen, haben geschrien, gelacht und gejubelt. „Die ganze Aufregung hat sich später gelegt“, sagt Fabian Fehse.

Der Bagger ist eine Anekdote. Eine Geschichte, die in der Verwandtschaft erzählt wird. Es ist das, was einem so einfällt, wenn man als heute 18-Jähriger in seinem Zimmer sitzt, bei den Eltern unterm Dach im Einfamilienhaus, und man davon reden soll, wie zu leben ist in Böckwitz-Zicherie. Dem Ort mit 400 Einwohnern, inmitten von Heide- und Moorlandschaft, in dem die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland wie ein mit dem Lineal gezogener Strich verläuft. Wie es war, zum Beispiel als Fünfjähriger auf der Westseite, als die Wende kam. Fabian Fehse sitzt auf dem Bett und guckt aus dem Fenster, wie ausgeliefert, Beine gespreizt, die Arme hängen nach unten. Es gelingt ihm nicht richtig, das Besondere zu beschreiben, er kennt es nicht anders.

Fabian Fehse hat einen Fernseher und einen Videorekorder im Zimmer stehen. Er hat eine Freundin, mit der er gerade im Griechenland-Urlaub war. Heute Nacht ist er tanzen gewesen, in einer Disko 70 Kilometer weit weg, erst um halb sieben Uhr früh reingeschlichen ins Haus. Er hat zu wenig geschlafen und denkt an seine Freundin, er findet „das Ganze mit der Grenze eigentlich nicht so interessant“.

Früher haben die Leute den Ort Böckwitz-Zicherie „Klein-Berlin“ genannt, wegen der Mauer. Von weit her sind Politiker zu Besuch gekommen, weil das Dorf ja Symbolkraft hat für die Teilung in Deutschland, das Kleine für das Große steht. Fernsehteams haben Scheinwerfer aufgebaut, Minister Reden gehalten, Bundespräsidenten Kränze niedergelegt. Heute gehört der Ortsteil Zicherie immer noch zu Niedersachsen, die Häuser von Böckwitz zu Sachsen-Anhalt.

Fabian Fehse guckt aus dem thermoverglasten Fenster. Auf den Garten, die Felder dahinter. Eine Aussicht, die auch sagt: hier ist nichts los. Abends trifft sich die Clique auf der Dorfstraße am Cola-Automaten oder auf dem Spielplatz. Die paar Meter in den Osten gehen sie nie. „Es gibt nichts, was mich da hinzieht.“

Fast zwölf Jahre sind seit der Wende vergangen, fast nichts wächst zusammen. Fabian Fehse ist im Februar volljährig geworden, der einzige Erstwähler auf der Westseite des Dorfes. Er darf jetzt Auto fahren und den Bundestag wählen. Es gibt Dinge, die ihn mehr bewegen als das, die Tage werden von anderem voll.

Von der Arbeit in der Fabrik etwa. Im Jahr 1938 hat Volkswagen in Wolfsburg sein Werk aufgemacht, die Bauern in Böckwitz-Zicherie haben ihre Heugabeln aus der Hand gelegt, sich ans Fließband gestellt. Wie sein Urgroßvater und Großvater schon, fährt Fabian Fehse jeden Morgen in einem VW die 23 Kilometer zur Produktion, so wie es sein Vater, die Nachbarn und Kumpels tun. Ins dritte Lehrjahr kommt er jetzt: Konstruktionsmechaniker Fachrichtung Feinblechbautechnik. Es ist nicht sein Traumjob, erklärt Fabian Fehse, „aber ein sicherer Arbeitsplatz, das Geld stimmt“. Seine Freundin arbeitet an der benachbarten Werkbank.

Manche jungen Menschen gehen in die Welt, machen Revolution. Fabian Fehse ist im selben Schützenverein wie sein Vater, bei der Freiwilligen Feuerwehr im Dorf, er will hier nicht weg. „Ich bin konservativ“, sagt er. Ein Satz, der ihm gefällt, weil er sein Zuhause verteidigt. Am 22. September wird Fehse die CDU wählen. „Stoiber hat den Bezug zum Land und zur Nation, das finde ich gut. Und dass man sagen kann, dass man stolz ist, ein Deutscher zu sein. Die FDP wäre natürlich auch eine Alternative. War doch cool, wie der Möllemann dem Friedman seine Meinung gesagt hat.“ Die Grünen sind dagegen „total sinnlos, machen einen auf Natur und sozial. Dolle bringt einen das nicht weiter.“

Es sind nur ein paar Schritte die Dorfstraße entlang ins Neubaugebiet von Böckwitz, dem Ostteil des Dorfes. Die einzige Erstwählerin, die auf dieser Seite wohnt, kommt eigentlich auch aus dem Westen. Weil das Bauland in Sachsen-Anhalt billig ist, hat die Familie aus Niedersachsen hier ihren Bungalow aufgestellt. Fünf Jahre ist das jetzt her. „Damals haben uns die Leute auf der Straße grimmig angeguckt“, erzählt Annkristin Süßbrich. Die 18-Jährige sitzt in einem flachen, hellen Wohnzimmer, der Raum riecht immer noch neu.

Annkristin Süßbrich war noch ein Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren, für die Böckwitzer „die Reiche aus dem Westen“. Eine „wie aus dem Weltall“. Eine, die nicht Dialekt spricht. Die Schülerin, die eine Klasse wiederholen muss, weil die Lehrer hier Russisch unterrichten statt Französisch.

Heute gilt sie selbst als eine aus dem Osten. In Hannover zum Beispiel, wo sie seit einem Jahr eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten macht, die Woche über wohnt und sich jeden Freitag in den Zug setzt nach Hause. Daheim ist jetzt Böckwitz in Ostdeutschland. Die Haare sind frech und kurz und rot gefärbt inzwischen.

Die Wochenenden hier sind schön, sagt Annkristin Süßbrich. Weil sie das Gegenteil sind von Hannover. Weil es keine Berufsschule gibt, keine Aktenstapel, keine Prüfungen. Stattdessen gemeinsame Abendessen mit Familie und kleinen Geschwistern, Spaziergänge mit zwei Hunden.

Am Samstagabend tut sie dann das, was alle Menschen tun, wenn sie in der ostdeutschen Provinz wohnen und sich amüsieren wollen, die Diskotheken aber im Westen sind. Sie geht zu den Festen, die hier entlang der Dorfstraße schon Wochen vorher plakatiert sind: Oldienacht im Zelt, Kirmes auf dem Marktplatz, Konzert im Landgasthof. Dahin, wo eine Kapelle die größten Hits aller Zeiten spielt, wo alle rumstehen, tanzen und trinken, wo sich Rechte und Linke am Rand schon mal prügeln, blass geschminkte Grufties ihre Kutten ausführen, wo ein DJ zwischen Technoschlagern auch Wolfgang Petry auflegt, weil hier alle Generationen kommen, nicht nur die Jugend. „Ich bin da ziemlich die Einzige aus dem Westen“, sagt Annkristin Süßbrich und verbessert sich gleich: „also die Einzige, die wirklich aus dem Westen kommt.“

Denn die meisten hier sind ja jetzt auch schon im Westen. In einer Gegend, wo die örtlichen Arbeitsämter den Menschen raten: „Los, geh rüber! Hier findest du nichts!“, bleibt keiner lange zurück. Von den Freunden aus der Schule haben sich fast alle bei VW in Wolfsburg einen Job gesucht oder im Ballungsraum Hannover. Die Löhne in Niedersachsen sind höher als in Sachsen-Anhalt.

Wie viele andere pendelt Annkristin Süßbrich jetzt also zwischen einer westdeutschen Landesversicherungsanstalt in der Stadt und einer ostdeutschen Freizeit auf dem Land. Schon der Job ist ein Kompromiss. Lieber wäre sie Polizistin geworden. Aber im Büro sei das Betriebsklima „klasse“, die Akten gar nicht so schlimm, und „Traumjobs gibt’s sowieso nicht“. Sehr artig und illusionslos klingt das.

Es scheint, als sei Annkristin Süßbrich eine, die sich gut eingefügt hat. In eine Ordnung, wo 18-Jährige gezwungen werden, abzuwandern und Berufe zu ergreifen, die sich kein Kind jemals wünscht. Als Wählerin, die sie ja jetzt ist, erwartet sie zumindest, dass der Staat mit seinem Geld Sinnvolles anstellt. „Die Grünen mit ihrer Ökosteuer! Das ist ja schön für die Umwelt, aber das geht auf Kosten von uns Arbeitern. Wir finanzieren das dann ja“, schimpft sie. Und „es kann doch nicht sein, dass die Arbeitslosen im Dorf alle Handys und Internet haben, und wir müssen das zahlen!“. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass es in dem kleinen Ort so ein Riesenproblem gibt mit Handys und Arbeitslosen, aber Annkristin Süßbrich findet es trotzdem gut, dass Stoiber Sozialleistungen kürzen will.

Dennoch wird sie bei der Bundestagswahl für die SPD stimmen, „damit wir nicht alle in Billigjobs landen und von morgens bis abends arbeiten müssen, wie vor 50 Jahren“. Auch weil sie Gerhard Schröder „so sympathisch“ findet, ist sie für die SPD. Sie hat den Kanzler im Radio bei einer Jugendsendung sprechen hören. „Sehr repräsentabel“ war er da.

Vom Bungalow im Neubaugebiet in Böckwitz kann man rübergucken auf die Westseite des Dorfes, kann fast das Haus in Zicherie sehen, in dem Fabian Fehse wohnt. Die Minister und Bundespräsidenten, die schon hier waren, erwarten vielleicht, dass in einem solchen Ort die Einheit besser funktioniert, wenn sie schon anderswo in Deutschland kaum gelingt. Aber Annkristin Süßbrich blickt aus dem Wohnzimmerfenster und sagt das Normale. Dass sie zu Fabian Fehse keinen Kontakt hat. Dass man – wie es sich eben ergibt, wenn man auf unterschiedlichen Schulen war – andere Ferien, Freunde und Berufe hat.

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