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Wie eine Fahne im Elbstrom

Seit 15 Jahren vermisst die „Atair“ den Grund der Nordsee. Zwei Taucher an Bord erkunden im Finstern Wracks, damit sich kein Schiff an hoch ragenden Aufbauten den Bauch aufschlitzt

von GERNOT KNÖDLER

Andreas Grzybowski spielt Blinde Kuh auf einem Schrottplatz. Behängt mit mehr als 30 Kilogramm Ausrüstung erfühlt der Berufstaucher auf dem Grund der Elbe die Konturen der „Broock“. Er tastet sich an zerfressenen Bordwänden des Frachters entlang und erklimmt jeden Mast, jeden Schornstein, jeden Kran. Seine Aufgabe: den höchsten Punkt des Wracks zu bestimmen, damit es keine anderen Schiffe ins nasse Grab reißt.

Grzybowski erledigt Feinarbeit, für die selbst die ausgefeilte Vermessungstechnik des „Vermessungs-, Wracksuch- und Forschungsschiffes“ Atair zu grob ist. Deren 16-köpfige Besatzung befasst sich für das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) mit einer ermüdend kleinteiligen Arbeit: Im 200-Meter-Abstand durchmisst sie Streifen für Streifen den Meeresboden der Deutschen Bucht und der Unterelbe. Seit 15 Jahren.

Alle drei Jahre geht es wieder von vorne los, denn der sandige Grund verändert sich ständig. Sandbänke bauen sich auf und verschwinden, Priele versanden, Ströme wandern. Sturmfluten verändern den Meeresgrund am stärksten. Wenn der Ozean richtig gewütet hat, müssen Kapitän Götz Bolte und seine Crew auf den großen Wasserstraßen Sonderschichten einlegen.

Seekarte aus Tausenden von Messwerten

Die Vermessungsarbeit erledigt die Besatzung bei gutem Wetter von zwei orangefarbenen Beibooten aus. Deren Echolote schicken alle 30 Meter eine Schallwelle nach unten. Aus ihrer Rücklaufzeit und der zuvor ermittelten Wasserschallgeschwindigkeit berechnet der Computer einen Tiefenwert. Aus den wichtigsten Werten wird eine Seekarte im Maßstab 1:20.000, ein Relief aus kleinen Zahlen mit winzigen Kommastellen und daraus konstruierten Tiefenlinien.

Ab und zu entdeckt die Atair bei ihren Vermessungsfahrten Unterwasserhindernisse. Mit dem Sidescan-Sonar, einem Echolot, das den Meeresboden links und rechts unter dem Schiff abbilden kann, verschafft sich die Besatzung einen ersten Eindruck. Er sieht aus wie das Ergebnis einer medizinischen Ultraschall-Untersuchung. Ein Ausdruck auf dem Kartentisch zeigt den spindelförmigen Umriss eines Schiffsrumpfs, daneben vier Balken, als seien die Rahen vom Mast gerutscht.

Das ist die Stunde der Taucher. Die Besatzung kipppt ein 500-Kilo-Eisenbahnrad über die Bordkante mit einer orangen Boje dran. In einem der Vermessungsboote fahren Andreas Grzybowski und Daniel Sankowski hinüber. Sankowski fummelt an den Ventilen von Grzybowskis dickem Taucheranzug herum und schraubt ihm den 14 Kilogramm schweren Helm auf.

Ohne Luft kriegt der Taucher Glubschaugen

Spätestens jetzt muss die Sauerstoff-Versorgung funktionieren. Am Ende eines Tauchgangs, erzählt Sankowski, hätten seine Helfer einmal alle Ventile geschlossen und vergessen, dass er den Helm aufhatte. Bis die Kollegen reagierten, hatte er einen roten Kopf und Glubschaugen.

Am Seil der Boje lässt sich Grzybowski hinab ins Wasser. „Schnief – blubber“, dröhnt es aus dem Lautsprecher im Vermessungsboot. Das Atmen strengt an, auch wenn genügend Luft durch den Versorgungsstrang kommt. Der Taucher hat keinen Schlauch im Mund, sondern holt sich die Luft aus dem Helm. „Bin auf Grund“, teilt Grzybowski mit.

Selbst wenn er die starke Lampe an seinem Helm anknipst und seine Hand vor der Sichtscheibe vorbeizieht, kann er bloß einen Schatten sehen, so trübe ist das Wasser der Elbe vor Brunsbüttel. „Schlage Kreis“, sagt Grzybowski. Um das Wrack zu finden, fasst er ein zweites Seil und geht daran um die Boje herum.

Am Wrack ist die Elbe gut 20 Meter tief, zeigt das Pneumofathometer: Es presst Luft aus einem Schlauch und ermittelt aus dem nötigen Druck die Wassertiefe. „Außenhaut 100 Prozent“, sagt Grzybowski zwischen „Schnief“ und „Blubber“. Das Wrack ragt einen Meter aus dem Grund. Es ist voller Sand. Vorsichtig tastet sich der Taucher daran entlang.

„Es fängt schon an Strom zu laufen“, meldet Grzybowski. Höchste Zeit aufzusteigen, denn im Elbstrom zu arbeiten ist fast unmöglich. „Wenn man voll im Strom sitzt, flattert man wie eine Fahne im Wind“, erzählt Sankowski auf dem Boot.

Grzybowski hat einen roten Kopf gekriegt. Seine lange Unterwäsche zeigt Schweißflecken. Doch das Tauchen macht nur einen Teil der Arbeit aus: Zweimal anderthalb Stunden einschließlich der Vor- und Nachbereitung sind die beiden Männer damit beschäftigt. Wie alle Besatzungsmitglieder erledigen sie mehrere Jobs. Wenige Stunden später sitzt Grzybowski auf der Brücke und steuert die Atair neuen Aufgaben entgegen.

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