: Braunschweiger Bücherkubus
Der mexikanische Pavillon der Expo 2000 hat sich in die Bibliothek der Hochschule für bildende Künste verwandelt
Die Schildbürger versuchten einst, Licht in Säcken einzufangen, um damit ihr neu errichtetes Rathaus zu erleuchten. Die physikalischen Gesetze machten den fensterlosen Experimentalbau freilich unbrauchbar. Die Braunschweiger gingen lieber auf Nummer sicher: Das neue Bibliotheksgebäude der Hochschule für bildende Künste ist einschließlich Dach rundum verglast. Zudem hat es seine Realitätsprobe schon längst bestanden – vor zwei Jahren als mexikanischer Expo-Pavillon auf dem Hannoveraner Messegelände.
Schon vor der Ausstellung hatten der mexikanische Architekt Riccardo Legorreta und seine deutschen Partner KSP Engel und Zimmermann überlegt, wie der temporäre Bau gemäß dem Expo-Ziel „Ressourcen nachhaltig nutzen“ einer langfristigen Verwendung zugeführt werden kann.
Nun wurden mit dem Würfel mit einer Kantenlänge von achtzehn Metern die räumlich beengten Verhältnissen der Bibliothek und die Gesichtslosigkeit des Haupteingangs der HbK beendet.
War in Hannover ein pinkfarbener Zylinder mit Kino der Inhalt des Glaskäfigs, signalisiert jetzt ein verdrehter Bücherkubus in leuchtendem Orange Kunst und Wissenschaft. Die Wände des Kubus schützen auf vier Etagen die Bücher vor dem Ausbleichen im Tageslicht, das beschichtete Glas tut ein Übriges, die Klimaanlage bei starker Sonneneinstrahlung nicht in Atemnot zu bringen. Licht fällt nur dort in den Kern des Gebäudes, wo „Lesebalkone“ mit Arbeitsplätzen in den Luftraum zwischen Körper und äußerer Hülle ausgestülpt wurden.
Direkt unter dem Glasdach wird der „Bücherturm“ von einer Terrasse abgeschlossen, für die noch eine Nutzung zu finden ist, die viel Licht benötigt und keinen Lärm verursacht. Zum Leidwesen der Bibliothekare breitet sich nämlich der Schall bis in den letzten Winkel des offenen Raumes aus. Der wie Asphalt erscheinende Fußbodenbelag entpuppt sich da glücklicherweise als weiches Gummi, sodass nicht jeder Schritt den um Konzentration ringenden Studenten zu Ohren kommt.
Wirklich spannungsvoll ist der Raum zwischen dem geschlossenen und dem gläsernen Körper: Durch die Verdrehung entstehen enge und weite Zwischenbereiche, in denen von Designstudenten der Hochschule entworfene Leseplätze locker verteilt wurden. Das Raster der Hülle wirft sein Muster auf die farbigen Wände, die ihrerseits das Orange auf die weiße Struktur reflektieren – je nach Tageszeit in unterschiedlicher Intensität. Im Glas des Dachs erscheinen die Spiegelungen der Wände wie ätherische Bilder de Chiricos in den Wolken.
Die Reduktion der Elemente auf geometrische, zuweilen fast archaische Formen ist ein Kennzeichen mexikanischer Architektur, die anders als etwa in Brasilien eine Synthese aus ursprünglicher Baukunst und moderner Architektur entwickelte. Der 1931 geborene Legorreta steht dabei in der Tradition der Meister aus den 1950er-Jahren wie Luis Barragan und Mathias Goeritz. Diese haben die Architektur gemäß dem Corbusier’schen Diktum „Architektur ist das Spiel der Formen im Licht“ durch Farben sinnlich bereichert.
Anders als auf der Expo steht der Würfel nicht auf einem erdgeschosshohen Sockel. Damit wird seine abstrakte Form auf die Höhe der umgebenden mediokren Bebauung nivelliert und die Wirkung als Landmarke der HbK empfindlich geschmälert. Lediglich die materielle Hülle, nicht aber die Architektur selbst als Ressource zu begreifen, stellt das angestrebte nachhaltige Bauen in Frage.
Befremdend ist auch der alles überlagernde weiße Split auf dem Vorplatz. Vielleicht sollte man sich hier an die radikalen modernen Architekten in Mexiko erinnert fühlen. Es war kein Schildbürgerstreich, dass Goeritz Fußweg und Bordstein exakt in der Breite seines Grundstücks grell lackierte, passend zur Gartenmauer.
Mit dem Imperativ von Legorreta: „¡Viva el color!“ können die Kunststudenten ebenfalls argumentieren. Als Farbe würde sich im Sinn der Lehre ein komplementäres Blau empfehlen.
MICHAEL KASISKE
Johannes-Selenka-Platz 1, Braunschweig. Ausstellung über Riccardo Legorreta, im Foyer, bis 30. August
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