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dieter baumann über LaufenDer Start ist das Ziel

Wettläufe sind immer endlich. Das ist gut – denn es drängt dem Zuschauer die Frage auf: Wer gewinnt?

„Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder, bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlej machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ Friedrich Nietzsche, Ecce homo

Wieder mal bin ich im Engadin an diesem Silvaplana-See laufend unterwegs – die obigen Zeilen sind nicht etwa eine Zustandsbeschreibung von mir. Nein, es sind Überlegungen eines Philosophen, genauer: Friedrich Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkunft. Seit 100 Jahren vielfach gedeutet, vielfach missbraucht. Steinbruchartig in Stücke zerrissen, Interpretationen aus der Apotheke nach Bedarf. Warum also nicht auch einmal beim Vorbeilaufen in Surlej en passant auf uns Läufer angewandt?

Meinen immer wiederkehrenden Besuch im Engadin kann man natürlich nicht zum ewigen Wiederkunft-Gedanken zählen, obschon sich der örtliche Kurverein über Stammgäste freut. Ein Dauerlauf in den Höhenlagen – „6.000 Fuß“ – erscheint mir allemal wichtiger für einen Läufer zu sein als für einen Philosophen. Und „Jenseits von Zeit“ versuche ich bei fast allen Trainingsläufen zu bleiben.

Ach, wie leicht lässt sich doch Nietzsches Wiederkunftsgedanke auf einen Laufwettbewerb übertragen, sinniere ich weiter, während ich in einer kleinen Laufgruppe den steilen Hügel zwischen Campingplatz Ausgang St. Moritz und Olympiaschanze schwer schnaufend hinauflaufe. Alle 400 Meter kehren wir Läufer an unseren Ausgangspunkt, den Start, zurück, um von dort in eine neue Runde zu starten. Mit dem immer gleichen Ergebnis, wieder am Start zu enden. Runde um Runde, ein ewiger Kreislauf. Aber nein, der Sport hat – Gott sei Dank – diesem ewigen Rundendrehen ein vernünftiges Regelwerk entgegengesetzt. 25 Runden, 10.000 Meter. Sehr endlich, sehr begrenzt. Bei Orientierungsproblemen zeigen uns die Rundentafeln das nahe Ende des Rennens.

Rios, Martinez, Baldini oder Lahssini verstanden bei der Münchner Leichtathletik-EM ihr Handwerk. Mal wurde eine schnelle Runde „eingestreut“, um die Gegner zu testen und zu zermürben. Mal eine langsamere, um selbst wieder zu Kräften zu kommen, um auszuruhen für den entscheidenden Moment, die finale Runde. Die Dramatik wäre nicht geblieben, die Zuschauer hätten uns Läufer auf keinen Fall mit tosendem Applaus gefeiert, wenn es ewig gegangen wäre. Die Spannung steigt selbst beim eher teilnahmslosen Zuschauer deshalb um ein Mehrfaches an, weil sich mit der Abnahme der zu laufenden Runden geradezu die Frage aufdrängt: Wer gewinnt?

Die Stimmung in München bei der Leichathletik-EM war einmalig. Wirklich? Auch in Stuttgart bei der EM vor 16 Jahren hat man vom einmaligen Publikum gesprochen. Es waren faszinierende Wettbewerbe. Das Hindernis-Finale kommt mir in den Sinn. Der Läufer Patriz Ilg entzückte die Fans im Stadion, drei Mann stürmten damals auf die letzten 100 Meter dem Ziel entgegen (wie in München über 10.000 Meter). Reicht es Ilg zum Sieg? Ein einziger lauter Schrei ging durch das Stadion. Es reichte ihm nicht, er wurde Dritter. Trotzdem wurde er gefeiert, als trüge er den Sieg davon. Aber die Dramatik damals lebte durch Patriz Ilg und seine Gegner. Einmalig von den Empfindungen der Athleten, einmalig von den Emotionen der Zuschauer. Von ewiger Wiederkehr kann 16 Jahre später in München keine Rede sein. Andere Personen, andere Umstände, andere Emotionen. Vielleicht hatten die Ordner hier und dort ihr persönliches wiederkehrendes Erlebnis. Leere Dosen, leere Flaschen, Unrat allerorten. Das ewige Reinemachen danach.

Nein, ein Dauerlauf am Silvaplana-See ist doch nicht der geeignete Weg, sich Nietzsches Gedankengang anzunähern. Zugegeben, der Weltcup in drei Wochen spukt mir mehr im Kopf herum. Mittlerweile führte uns der Weg durch Surlei, dann noch die wenigen Kilometer nach Sils Maria. Locker leicht laufend. Mit Unterstützung des Maloja-Windes ging es am besagten Silvaplana-See zurück. Und mir scheint, dass immer dort, bei diesem pyramidal aufgetürmten Block, wo einst Nietzsche seinen Gedankenblitz hatte, irgendeiner in der Gruppe zuckt. Nur eine kleine Tempoverschärfung zwar – aber mit weitreichenden Folgen. Denn bis zum Ortsschild von St. Moritz erreichen wir Höchstgeschwindigkeit, und immer sehne ich mir in solchen Momenten jene Glückshormone herbei, die manche Läufer gar im Stande sind selbst zu produzieren. Nichts davon bei mir, froh angekommen zu sein, hoffe ich mit diesem Programm gut vorbereitet beim Weltcup am 20. September in Madrid starten zu können.

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