Die Abkehr der Eliten

Der Kapitalismus steckt in einer Krise, denn erstmals hat er diejenigen enttäuscht, die ihn tragen, stützen und von ihm profitieren: die Angehörigen der Mittelschicht

Fallen öffentliches und privates Interesse auseinander, steht die Verfassung der Wirtschaft zur Disposition

Der Kapitalismus ist in der Krise? Auf den ersten Blick ist das eine vermessene Annahme. Das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der marktwirtschaftlichen Ökonomie, zum ersten Mal seit 250 Jahren, gibt es kein Außen mehr: Seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks Ende der 1980er-Jahre regiert die kapitalistische Ordnung die ganze Welt – bis auf kleine Reste.

Der Westen hat sein ökonomisches System bis in den letzten Winkel des Globus exportiert. Weiteres Wachstum kann sich nur noch auf die effektivere Durchdringung der Gesellschaften orientieren, die die Marktwirtschaft bereits übernommen haben. So betrachtet, war der Kapitalismus nie mächtiger als heute. Bester Beweis dafür ist der Erfolg, mit dem die großen westlichen Wirtschaftsnationen unter Führung der USA ihr Ideal des Freihandels überall durchsetzen. Beeinflusst von den Anschlägen des 11. September 2001, forcierte die Welthandelsorganisation WTO im vergangenen Winter auf der Konferenz von Doha die weltweite wirtschaftliche Liberalisierung. Einige Staaten leisteten hinhaltenden Widerstand, aber keine Regierung mochte grundsätzlich widersprechen. Doch trotz dieser eindeutigen Lage macht die These von der „Krise des Kapitalismus“ die Runde.

Der wichtigste Funktionsfehler besteht gegenwärtig darin, dass innerhalb der Mittelschicht besonders in den USA und Deutschland eine Art mentaler Abwanderung im Gange ist. Die bürgerlichen Schichten – normalerweise die Profiteure, Träger und Eliten der Marktwirtschaft – haben durch den Zusammenbruch der Börsen große materielle Verluste zu verkraften. So viel Geldvernichtung wie seit Frühjahr 2000 war noch nie. Allein durch den Wertverlust der wichtigsten Unternehmensaktien im US-Index Standard & Poors und im deutschen DAX sind rund 4,5 Billionen Dollar Kapital, Vermögen, Erbschaften und Ersparnisse verschwunden.

Der unvorhergesehene Einbruch, der oftmals die Lebensplanung – Hausbau, Studium der Kinder, Altersversorgung – über den Haufen geworfen hat, nährt im Zentrum der Gesellschaft den Zweifel, ob die ökonomische Ordnung so stabil ist, wie sie vorgibt zu sein. Im Ergebnis verringert sich die soziale Integrationsfähigkeit der Marktwirtschaft im Hinblick auf die Elite.

Ein Indiz dafür ist, das Millionen Menschen nicht mehr bereit sind, ihr Geld dem modernen Börsenkapitalismus zur Verfügung zu stellen. Gab es Ende 1999 noch 13,5 Millionen aktive Aktionäre in Deutschland, sind es jetzt nur noch rund 11 Millionen. Das liegt nicht vornehmlich daran, dass den Leuten das Geld ausgegangen wäre – jedes Jahr werden rund 200 Milliarden Euro vererbt. Der Boykott der Investoren trifft die Wirtschaft, die immer mehr von Börsen-, weniger von Banken und Eigenkapital lebt, an ihrer empfindlichsten Stelle. Den Unternehmen fehlt Geld, um zu arbeiten – die „allgemeine Verunsicherung“ führt zu „abträglichen Konsequenzen“ für die Wirtschaft, wie Bundesfinanzminister Hans Eichel kürzlich öffentlich bemerkte.

Die Erosion der Bindungsfähigkeit nimmt auch deshalb zu, weil die Fallhöhe so groß ist. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist keine, wie sie alle paar Jahre einmal vorkommt. Im kollektiven Gedächtnis brennt sie sich als Schicksalsschlag ein, den es eigentlich nie mehr geben sollte. Schließlich hatten die Theoretiker der New Economy ökonomische Depressionen und grassierende Arbeitslosigkeit zum Phänomen der Vergangenheit erklärt. Dank des Internets sollte es fortan immer weiter aufwärts gehen. Das goldene Zeitalter des Kapitalismus war eingeläutet, in dem dieser seine Kinderkrankheiten endgültig überwunden haben sollte.

Nicht nur diese Seifenblase platzte. Seit herauskam, dass der Börsenboom ganz erheblich auf kriminellen Praktiken wie Bilanzbetrug basierte, steht außerdem die Legitimität der gesamten ökonomischen Führungsschicht zur Disposition. Die Zahl der schwarzen Schafe ist so groß, dass nicht mehr von Ausnahmen die Rede sein kann. So ist der Ruf der ganzen Wirtschaftsprüferbranche nachhaltig ruiniert. Die Erschütterungen, die der Zusammenbruch des US-Energie-Konzerns Enron verursacht hat, sind kaum zu unterschätzen.

Die vielen Klagen, die Aktionäre jetzt gegen die Vorstände ihrer Firmen anstrengen, um ihr Geld wiederzubekommen, geben einen Hinweis darauf, dass das privatwirtschaftliche Handeln der Manager und das öffentliche Interesse stärker auseinander klaffen als je zuvor. Unternehmensvorstände haben den berechtigten Interessen ausgerechnet des Teils der Bevölkerung zuwidergehandelt, der sie zu stützen pflegt – auch das ist ein Krisenphänomen.

Um dem Börsenkapitalismus aus seiner Krise herauszuhelfen, hat die Bundesregierung einige Gesetze verschärft. Auch Parlament und Regierung der USA haben reagiert, indem sie mit dem neuen Sarbanes-Oxley-Gesetz die Strafen für Bilanzbetrug drastisch erhöht haben und den Vorständen der Aktiengesellschaften nun einen Eid auf ihre Rechnungslegung abverlangen.

Millionen Menschen stellen ihr Gelddem modernenKapitalismus nicht mehr zur Verfügung

Das soll in Zukunft die Gefahr der gigantischen Fehlallokation von Ressourcen, der kriminellen Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums, minimieren. Wenn öffentliches und privates Interesse derart massiv auseinander fallen, steht die Verfassung der Wirtschaft zur Disposition. Es ist ratsam, nicht nur von außen, per Strafgesetz oder Verhaltenskodex, Korrektive für die Wirtschaft zu schaffen, sondern in den Unternehmen selbst Interessen zu installieren, die dem Missbrauch vorbeugen. Auch in diese Richtung ist die US-Administration aktiv geworden: Das Sarbanes-Oxley-Gesetz verlangt, dass externe Kontrolleure, die nicht aus dem jeweiligen Unternehmen kommen, im Aufsichtsgremium sitzen.

Ob diese Maßnahme zieht, bleibt abzuwarten. Es scheint sich aber auf neue Art die alte Erkenntnis durchzusetzen, dass Konzerne nicht nur privatwirtschaftlichen Interessen dienen dürfen, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung besitzen. Die Krise des Kapitalismus wirft also das Problem auf, ob nicht nur der Staat, sondern auch die Wirtschaft demokratisch organisiert werden sollte.

Die Frage ist allerdings, welche Organisationen und Interessen hierzulande eine derartige Kontrollfunktion gegenüber der Wirtschaft ausüben könnten. Der Soziologe Ulrich Beck hat unlängst in der taz vorgeschlagen, Globalisierungskritiker an den Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds zu beteiligen. Wollen Attac & Co. so etwas, sind sie dazu in der Lage? Wohl kaum. Die mächtigen Verbraucherschutz-Organisationen oder etwa Transparency International, ein Verband, der sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hat, erheben ebenso wenig den Anspruch, in den innersten Kreis der ökonomischen Macht vorzudringen. Unabhängige Gruppen, die neue gesellschaftliche Interessen gegenüber der Wirtschaft vertreten und die Kraft haben, diese auch durchzusetzen, existieren bis heute nicht – doch sie werden sich entwickeln. HANNES KOCH