: Wir lagen vor Mururoa
Dreißig Jahre lang war die Umweltbewegung mit apokalyptischen Warnungen und spektakulären Publicityaktionen erfolgreich. Nun kommen ihr die Themen und die Gegner abhanden. Ein Blick auf unübersichtliche Zeiten
von MICHAEL O. R. KRÖHER
Seit ein französischer Marinesoldat 1973 eine Protestaktion auf hoher See beendete, indem er David McTaggart einen Schlagstock ins rechte Auge rammte und dabei den Sehnerv verletzte, sah ein Auge des legendären Greenpeacechefs „die Welt auf eine bestimmte Weise, das andere auf eine andere“. Die im Einsatz erlittene Sehstörung ihres unlängst verstorbenen Vorkämpfers muss heute als symptomatisch für die gesamte Umweltbewegung gelten; die verzerrte Wahrnehmung der Welt ist zu einer Art psychosomatischem Stigma vieler Ökoaktivisten geworden. Warum, zum Beispiel, setzt sich diese Fraktion der Artenschützer vor allem für höhere Lebewesen ein, also Nashörner, Tiger oder Pandabären? Noch nie gehört hat man dagegen von einem Bemühen um Kellerasseln, Nacktschnecken oder Feuerquallen.
Ein anderes Beispiel sind die Windkraftwerke: Die waren nur so lange die ideale Lösung eines Problems, die ökologische Alternative zur Stromversorgung aus Atomreaktoren, bis sie den Umweltaktivisten tatsächlich ins Blickfeld gestellt wurden. Heute betrachten sie den einstigen Königsweg quasi mit dem anderen Auge und wehren sich in zahllosen Bürgerinitiativen gegen die „Verspargelung“ des Landschaftsbildes durch Windräder, etwa an der nordfriesischen Küste. Viele solcher Widersprüche und Sprunghaftigkeiten haben bewirkt, dass der Umweltbewegung in der Postmoderne allmählich die Themen wie die Gegner abhanden kommen. Ihre traditionellen Widersacher in Industrie und Politik wissen kaum noch: Wen darf oder muss man ernst nehmen – und wer kann überhaupt noch etwas gewinnen?
Das militärische Rollkommando, das die Segelyacht „Vega“ vor dem Mururoaatoll geentert hatte, beging damit „einen Akt der Piraterie“, wie die Klageschrift formulierte, die McTaggart in den folgenden Jahren bis zum französischen Appellationsgerichtshof verfocht – mithin einen der schlimmsten Rechtsbrüche, den die internationale Jurisdiktion kennt. Formell wollte sich McTaggart das Durchfahrtsrecht in den internationalen Gewässern des Südpazifiks erstreiten. Die französische Regierung hatte wegen oberirdischer Atombombenversuche in Französisch-Polynesien die Sperrzone am Stützpunkt Mururoa willkürlich auf etliche zehntausend Quadratkilometer ausgeweitet. Dort, so hatten die Tester ermittelt, bestanden die größten Risiken für Schäden durch den radioaktiven Fall-out ihrer Wasserstoffbomben.
McTaggarts tödlicher Autounfall im März 2001 war nach offizieller Lesart keine Spätfolge der schweren Körperverletzung vor Mururoa. Das Ableben des 68-Jährigen stand auch nicht in Zusammenhang mit seinem Engagement für die Umweltschutzorganisation Greenpeace, der er bis 1991 vorstand. Nach zwölf Jahren Geschäftsführung und weltweiter Expansion hatte sich der einstige Weltenbummler nach Italien zurückgezogen und sich dem ökologischen Olivenanbau gewidmet.
Zuvor war McTaggart nicht nur der machtvolle Ziehvater von Greenpeace, der die Organisation von einer harmlosen Hippietruppe zu einem schlagkräftigen, global aufgestellten Konzern, zum Schrecken jedes Industriekapitäns wandelte. Er war auch einer der wichtigsten Vertreter jener Ideologie, die einem vermeintlich Guten zum Sieg verhelfen, indem sie sich selbst planvoll ins Unrecht setzen; die nicht so sehr mit umfassenden Zahlenwerken und komplexen Zusammenhängen argumentieren, sondern vor allem moralisch; deren Quellen sich oftmals aus Glauben speisen – wenn auch aus gutem.
„Natürlich weiß ich, dass der Planet nicht untergeht, wenn die Kanadier Robbenbabys vor ihrer Ostküste killen“, erklärte McTaggart in den frühen Achtzigerjahren anlässlich der Greenpeacekampagne gegen das Robbenschlagen. „Aber die traurig dreinblickenden Tierbabys, die von rohen Kerlen mit groben Knüppeln erledigt werden, sind hervorragende Sympathieträger für Millionen von Menschen, die sich so gewinnen lassen für unsere Aktionen zur Rettung der Meere.“
Das war die wahre Dimension: die Rettung der Meere, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Die sahen McTaggart und seine Mitstreiter als längst bedroht. Die alarmistischen Analysen und düsteren Prognosen für die nahe und mittlere Zukunft der Industriegesellschaften, vorgestellt von der Wissenschaftlervereinigung des Club of Rome 1972 im Bericht „Grenzen des Wachstums“, waren nur Bestätigung und Ergänzung der Argumentation, nicht ihr Auslöser.
Zur Abwendung dieser Entwicklung bedienten sich McTaggart, Greenpeace & Co. vor allem jener Mittel der Medienkommunikation, die die Sensationspresse beherrscht: Sie übertrieben die Fakten und malten die Auswirkungen in schwärzestem Schwarz. Sie personalisierten, spitzten Konflikte immer auf ihre emotionale Komponente zu und setzten auf die Macht der Bilder – vor allem der bewegten.
Dabei brauchte gerade McTaggart besonders lange, bis er die Regeln der Medienkommunikation begriff. Der größte Erfolg seiner ersten Protestaktion vor Mururoa im Jahr 1972 bestand darin, die Nussschale „Vega“ im südpazifischen Winter rechtzeitig vor der ersten Bombenzündung in den Sperrkordon vor dem Atomtestgelände gebracht und dort lange genug ausgehalten, die Versuche somit verzögert zu haben. Die meisten anderen Skipper, die in den Jahren zuvor und danach die knapp sechstausend Kilometer weite Seereise von Neuseeland nach Mururoa versuchten, scheiterten – selbst wenn sie sehr viel größere Schiffe benutzten. Keiner hielt so lange aus in der Gefahrenzone wie der Glücksritter McTaggart und seine beiden Crewmitglieder.
Verlauf und Ausgang der Protestaktion konnten indessen weder die Weltöffentlichkeit noch der Auftraggeber, die Greenpeace Foundation im fernen Vancouver, verfolgen. Ein eigens angeschafftes großes Funkgerät, das die enormen Entfernungen zwischen dem Schifflein im Sperrkordon und der nächsten neutralen Beobachtungsstation hätte überbrücken können, brachte die gesamte Elektrik der „Vega“ zum Erliegen. Niemand an Bord konnte es richtig bedienen; ein Entsandter von Greenpeace, McTaggart als Funker und Aufpasser zur Seite gestellt, erwies sich keiner der Aufgaben gewachsen und wurde kurzerhand auf der Insel Rarotonga ausgebootet.
Auch bei der folgenden Reise im Jahr 1973 erwiesen sich McTaggart und die Greenpeacer keinesfalls als Kommunikationskünstler. Zwar war nun eine Funkbrücke eingerichtet, und ein Geheimcode sollte verhindern, dass die Botschaften von den Gegnern mitgehört werden konnten. Den Zettel mit McTaggarts Anweisungen fürs Entschlüsseln des Codes hatten die Hippies in der Aktionszentrale seiner kanadischen Auftraggeber jedoch verschlampt. So konnte das Protestschiff abermals nichts von Bedeutung funken. Das französische Militär hingegen verbreitete seine lückenhaften und zum Teil glatt erlogenen Versionen wieder unwidersprochen.
Für die Dokumentation der Untaten seiner Gegner hatte McTaggart seine Freundin mitgenommen. Die schmuggelte nach dem gewaltsamen Entern der „Vega“ zwar den Kleinbildfilm mit den Beweisfotos von den knüppelnden Marinesoldaten in ihrer Vagina von Bord. Doch im entscheidenden Moment des Enterns klemmte der Transporthebel der Nikon, nur wenige Aufnahmen waren möglich. Und es dauerte Wochen, bis diese entwickelt und publiziert waren.
Die Umweltbewegung hat aus den Debakeln der ersten großen Greenpeaceaktionen gelernt. Bei jeder Aktivität wird heute zunächst festgelegt, welches Kamerateam wie und wo eingesetzt wird, wo O-Töne mitgeschnitten werden können und wie die allfälligen Pressekonferenzen am besten in die übrigen Abläufe zu integrieren sind. Nach dem Motto „Jedes Bild sagt mehr als tausend Worte“ ist für Fotos jedesmal gesorgt. Der erste Tote der Umweltschutzbewegung war entsprechend nicht etwa ein besonders draufgängerischer Walfanggegner oder Verklappungsverhinderer, sondern ein Pressefotograf. Der Portugiese Fernando Pereira starb 1985 an Bord des Greenpeaceschiffes „Rainbow Warrior“ im Hafen von Auckland durch eine vom französischen Geheimdienst gelegte Bombe.
Heutige Aktionen, etwa gegen den Castortransport ins niedersächsische Atommüllzwischenlager von Gorleben, werden eigens unter dem Aspekt einer spektakulären Medienwirkung geplant. So schmiedeten sich Aktivisten an den Gleisen jenes Stücks Bahnstrecke in Ketten fest, das am besten für Fernsehinterviews geeignet war. Wenig später wurde der „Chain Gang“-Topos getoppt durch andere Protestierer, die sich unter den Gleisen einbetoniert hatten. Beide Aktionen konnten den Transport nicht verhindern. Sie sorgten aber für Publicity. Den Bürgern vorm Fernsehschirm, so belegten Umfragen wenig später, war indes nicht mehr klar, was das Verzögern eines Hightechbahntransports durch passiven Widerstand, Ketten und Beton noch mit dem Schutz der Umwelt zu tun haben könnte. Unklare Motive und uneinheitliche Strategien sind von Anfang an ein Charakteristikum der Umweltbewegung. Ziel war und ist weniger die sachliche Lösung eines Problems, eher eine gemeinsame, oft nur symbolische Aktivität. Wie bei einem Geländespiel. Oder bei der Projektwoche einer Mittelschule.
Die Greenpeace Foundation war 1971 aus einer Initiative gegen die Atombombenversuche der US-Army auf den Aleuten vor Alaska hervorgegangen. Der ging es ursprünglich weniger um Umwelt- als um Selbstschutz: Die Bewohner der nördlichen Pazifikküste befürchteten eine Flutwelle durch die Bombenexplosion – weshalb ihr Komitee den einleuchtenden Namen „Don’t Make a Wave“ trug.
In der Folge schlossen sich in Vancouver fünf Atomwaffengegner zur Greenpeace Foundation zusammen, darunter das Quäkerehepaar Stowe. Finanziert durch ein Benefizkonzert der Singersongwriter Joni Mitchell und James Taylor, charterten sie im Sommer 1971 einen schrottreifen Fischkutter und schipperten vor die Aleuten. Dort wollten sie in bester Quäkertradition „Zeugnis ablegen“. Diese Form des Protests drückt Missbilligung durch Anwesenheit aus. Allein die Tatsache, dass Beobachter auftauchen, soll die Akteure verunsichern und umstimmen.
Aber die Aktion war ein Reinfall. Das Schiff gelangte nicht nah genug ans Testgelände, die Army wich kein Jota von ihrem Versuchsprogramm ab. Dennoch bekamen die Greenpeacer ein positives Echo. Die Öffentlichkeit teilte ihre Grundeinstellung. Und obwohl es auch 1971 keine Flutwelle gab, galt es als ein Etappensieg der gerechten Sache, als das Militär erklärte, keine weiteren Bomben auf den Aleuten zu zünden. Die Gründe für diese Entscheidung hatten jedoch nichts mit den Aktionen und nur wenig mit Umweltschutz zu tun. David McTaggart wusste in dieser Zeit nichts vom „Zeugnisablegen“. Nach einer Gasexplosion mit drei Schwerverletzten in seinem kalifornischen Bauprojekt war er ein Aussteiger, auf der Flucht aus einer gescheiterten Existenz.
Ein paar Jahre lang durchstreifte er ziellos die Südsee mit der „Vega“, zeitweise lebte er vom Uhrenschmuggel, dann als Charterkapitän. 1972 meldete er sich auf ein Zeitungsinserat der Greenpeace Foundation, die ein Charterboot für den Einsatz in Französisch-Polynesien suchte. Allerdings war der Sperrkordon vor Mururoa sechstausend Kilometer von Neuseeland entfernt. Seine Crew setzte sich auf der winzigen Schaluppe all den Risiken und Beschwernissen eines monatelangen seglerischen Himmelfahrtskommandos aus, Greenpeace zahlte zwar Verpflegung und Ausrüstung, es gab jedoch weder Heuer noch Erfolgsprämie.
McTaggarts Abenteurertum hatte gut zwanzig Jahre Hochkonjunktur: Weil die Greenpeace Foundation ihm weder den Schaden an Leib und Gut vergüten noch die Gerichtskosten erstatten konnte, die für McTaggarts Prozesse in Frankreich anfielen, übernahm er den Namen der zwischendurch mehrfach aufgelösten Organisation und machte aus der biederen Stiftung einen schlagkräftigen internationalen Konzern. Heute betreibt Greenpeace International, wie der Zusammenschluss von über dreißig Untergruppen heißt, sechs Schiffe, ein Amphibienflugzeug, einen Experimental-PKW, mehrere Heißluftballone und zahllose Schlauchboote. Zuletzt nahm Greenpeace International, Geschäftssitz Amsterdam, 126 Millionen Euro ein – aus Spenden, aber auch aus Straf- und Bußgeldern, die Gerichte und Behörden der gemeinnützigen Organisation überweisen.
Ein solcher Apparat lässt sich nicht mehr mit den Methoden des Einhandsegelns führen. McTaggarts Nachfolger auf dem Sessel des internationalen Vorstandsvorsitzenden war der Deutsche Thilo Bode, ein Maschinenbauingenieur mit großer Integrationskraft und beachtlichem Managementgeschick, doch mit eher begrenztem Charisma. Sein Nachfolger, Gerd Leipold, ist wiederum nur eine Interimslösung.
Immer mehr rückt die Umweltbewegung davon ab, Ziele und Methoden selbst zu bestimmen. Immer öfter müssen die Organisationen zunächst Dialogbereitschaft beweisen, an endlosen Konferenzen teilnehmen und hinterher auch noch die faulsten Kompromisse verteidigen. Rückblickend erscheint die Gipfelkonferenz der UNO von Rio de Janeiro nicht nur als die größte offizielle Veranstaltung zu ökologischen Themen, sondern zugleich auch als Höhepunkt der gesamten Umweltbewegung. Seither, seit 1992, wurde kein Meilenstein mehr erreicht, kein Durchbruch mehr erzielt, kein Gegner mehr in die Knie gezwungen. Der Ausstieg der USA aus dem Kiotoprotokoll für einen weltweit verminderten Kohlendioxidausstoß, den Präsident Bush im Frühjahr 2001 verkündete, muss sogar als herber Rückschlag gelten.
Andere Aktivitäten, etwa gegen die Versenkung der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee 1995, waren vordergründig zwar ein Erfolg: Der Inhaber, die Shell-AG, musste die Entsorgungspläne aufgeben und wurde somit wenigstens symbolisch besiegt. Genau genommen war die Aktion jedoch eine Katastrophe. Zur Begründung, warum sie das Deponieren verhindern wollten, gaben die Greenpeacer Messwerte von über fünftausend Tonnen Schadstoffen an, mit der die ausrangierte Plattform angeblich belastet war.
Der spektakuläre Protest, in dessen Verlauf sich selbst so phlegmatische Gemüter wie die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel öffentlich auf die Seite von Greenpeace schlugen, stellte Shell als vorsätzlich handelnden Umweltfrevler dar, der obendrein redliche Protestierer mit Wasserwerfern in die aufgepeitschten Nordseewellen zu werfen versuchte. Erst lange nach der für Shell peinlichen Niederlage stellte sich heraus, dass die Greenpeaceberechnungen maßlos überhöht waren: Die Brent Spar enthielt nur hundertfünfzig Tonnen Problemstoffe.
Danach hat Greenpeace nur noch Rückschritte verwaltet: Das Experimentalauto Smile, das durch Leichtbauweise und aufwändiges Motormanagement der Industrie eine Alternative vor Augen führen sollte, erwies sich als überflüssig: Volkswagen bietet mit dem Drei-Liter-Lupo seit Jahren ein robustes Großserienauto, DaimlerChrysler will 2004 einen schadstofffreien Brennstoffzellen-PKW vorstellen.
Beim Thema Gentechnik findet derzeit ein breiter Wertewandel statt: Zum einen haben Nahrungsmittelkonzerne Produkte wie die „Gen-Tomate Flavr Savr“ längst wieder vom Markt genommen, das Produkt erwies sich als unverkäuflich. Nestlés „Butterfinger“, der Öl aus gentechnisch veränderten Sojapflanzen enthielt, erlitt das gleiche Schicksal. Zum Zweiten erkennen selbst Ökoideologen des alten Schlages die positiven Seiten der Genforschung und Gentechnik. Und sogar das Magazin Öko-Test, einst Zentralblatt des umweltfixierten Alarmismus, muss immer öfter positive Schlagzeilen formulieren: „Paprikapulver – die meisten Pulver sind in Ordnung“.
Seit einigen Jahren sinkt die Zahl der Greenpeaceförderer: von knapp drei Millionen weltweit auf derzeit unter 2,5 Millionen. Dramatischere Einbrüche drohen, wenn einzelne Länder der Organisation die Gemeinnützigkeit aberkennen, wenn Spenden somit nicht mehr von der Steuer abgesetzt werden können. Im Gründungsland Kanada ist dies bereits seit vielen Jahren so, in Deutschland tauchten nach der Blockadeaktion der Castortransporte im Frühjahr 2001 erste Überlegungen in diese Richtung auf.
Diese Entwicklungen markieren gravierende Veränderungen im Umweltbewusstsein, das zumindest in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit klarer Freund-Feind-Kennung funktionierte: hier die Robbenschläger und Walschlächter, dort die Tierfreunde und Artenschützer; hier die Atombomber und Giftmüllverklapper, dort die Friedensbewahrer und Umwelthüter; hier die Klimaschänder und Naturfrevler, dort die Konsumverzichtler und Energieasketen. Nun wird es unübersichtlich: Natürlich will niemand auf strahlendem Atommüll wohnen. Aber wohin mit den Überresten der politisch beendeten Epoche der Atomkraftwerke? Selbstverständlich ist jedermann gegen das unkontrollierte Freisetzen von genetisch manipulierten Organismen. Was aber, wenn dasselbe Verfahren, das etwa bestimmte Schmetterlingsarten vertreibt, auch ertragreichere, schädlingsresistente Nährpflanzen hervorbringt, die tatsächlich einen Beitrag zur Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung leisten können?
Zwei Hauptdefizite, der fehlende Konsens und das fehlende Feindbild, haben dazu beigetragen, dass die Umweltbewegung heute in etliche Fraktionen zersplittert ist, die zwar nicht verfeindet sind, aber immer weniger Berührungspunkte haben. Da ist zum einen Greenpeace – mit den geschilderten Problemen. Nachahmerorganisationen wie Robin Wood und einzelne mehr oder weniger aktionsbereite Bürgerinitiativen haben meist nur regionale, allenfalls nationale Bedeutung. Naturschützer wie Friends of the Earth, Sierra Club, World Wide Fund for Nature oder Nabu (der Nachfolger des Deutschen Vogelschutzbundes) verstanden sich noch nie als Aktivisten im Stil des zivilen Ungehorsams, wie ihn die Regenbogenkrieger von Greenpeace praktizieren. Sie versuchen, die Natur zu schützen, indem sie Menschen nicht nur den Zugriff, sondern am liebsten auch den Zutritt verwehren: durch die Errichtung von Sperrgebieten, gegebenenfalls auch von Zäunen. Das stößt immer häufiger auf Widerstand von Anwohnern, Nutzern und jenen Naturfreunden, die sich nicht aussperren lassen wollen. Bekanntestes Beispiel ist der gescheiterte Plan eines Nationalparks in den Elbauen.
Organisationen wie die Deutsche Bundesstiftung Umwelt oder B.A.U.M. (Bundesarbeitsgemeinschaft für umweltgerechtes Management) sind reine Verwalter, Geld- und Sachmittelverteiler. Sie steuern allenfalls die Formen des Diskurses, nicht aber seine Themen oder Ergebnisse. Halbwissenschaftler wie die Amerikaner Amory Lovins (Rocky Mountain Institute) und Lester Brown (Worldwatch Institute) sowie der Bundestagsabgeordnete Ernst Ulrich von Weizsäcker (Expräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie) betreiben mit Slogans und Programmen wie „Faktor vier“ (mit der Hälfte des Energie- und Ressourcenaufwandes doppelte Produktivität erzielen) vor allem Kapitalismuskritik – weitab von öffentlich wahrnehmbaren Wirkungen.
Das verbindende Element dieser Organisationen und Fraktionen ist eine apokalyptische Weltsicht. Sie geht davon aus, dass die Welt gerettet werden muss: vor der Klimakatastrophe, vor Gentechnik, Walfang und anderen Übeln unserer Zivilisation. Dabei lassen sich die Apokalyptiker nicht beirren von der Tatsache, dass kaum eine der düsteren Prognosen des Club of Rome eingetreten ist, dass die Ressourcen noch nicht verbraucht, der Wald noch nicht gestorben, die Menschheit noch nicht am Ende ist.
Gut dreißig Jahre nach der globalen Popularisierung dieser Stich- und Schlagworte durch David McTaggart und die Fraktion der Zeugnisableger verfolgen auch die grünen Parteien als der politische Arm der Umweltbewegung noch immer die gleichen Methoden wie damals: Sie propagieren Verzicht, vor allem auf Konsum, operieren mit Verboten und Restriktionen, bauen Behörden, Bürokratien und ähnliche obrigkeitliche Strukturen auf. Gehen ihnen dabei die Bedrohungen aus, erfinden sie neue.
Vor einigen Jahren etwa den „Elektrosmog“ – ein rätselhafter Umweltfaktor, der angeblich von jedem elektromagnetischen Feld ausgeht, besonders aber von Mobiltelefonen und den dazugehörigen Funkmasten, von Fernsehtürmen, Überlandleitungen und ähnlich modernen Energie- und Kommunikationstechnologien.
Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Horst-Eberhard Richter, selbst lange Zeit für apokalyptische Anwandlungen empfänglich, spricht in diesem Zusammenhang von „vagabundierenden Ängsten“: Im Krieg oder bei offensichtlichen Gefahren richten sich diese auf die handfeste Bedrohung; im friedlichen Vakuum der Wohlstandsgesellschaft wenden sie sich mangels realer Ziele jedoch kollektiven Fantasien zu, etwa den Hochspannungsleitungen oder dem Handy, in das dann Risiken projiziert werden.
Der Tod von David McTaggart markiert das Auslaufen einer Linie, wie sie die Arbeiterbewegung nach dem Ableben Ferdinand Lassalles in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchmachte. Der Gründer des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins war ein ähnlich romantischer Lebemann wie der kanadische Baulöwe und starb im Duell. Aber seine evolutionären Ideen haben die grimmigen Klassenkampfparolen überdauert und klingen nach im politischen Hintergrundrauschen der Sozialdemokratie. Betrachtet man die Umweltbewegung vor dieser Kulisse, könnte man sich fragen, ob nicht McTaggart ähnlich wie Lassalle utopischen Vorstellungen gefolgt und damit gescheitert ist – was freilich eine späte Würdigung als Heros der Arbeiter- beziehungsweise Umweltbewegung keineswegs ausschlösse. Bis dahin mag man sich an der Legende vom Kampf des David McTaggart gegen den Goliath der Grande Nation wärmen.
MICHAEL O. R. KRÖHER, Jahrgang 1956, ist Redakteur beim Manager Magazin . Die Langfassung des Textes erschien im Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 633
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