: berliner szene Grelles Wohnen in Mitte
Blasphemische Fassade
In der Rosenthaler Straße hat sich Mitte etwas langsamer entwickelt. In letzter Zeit allerdings hat sich wieder etwas getan, zwei weitere Häuser sind restauriert oder treffender: umgebaut worden. Und das eine von beiden, in zartem Rosa gehalten und noch nicht ganz fertig, lässt, nachdem das Gerüst abgebaut wurde, Menschen zusammenzucken. Denn der Bauherr und seine Beratungsteams haben es sich erlaubt, den fehlenden Fassadenzierrat durch mildgrüne Metallgepräge zu ersetzten, die hervorragend in eine 80er-Jahre-Disko gepasst hätten.
Zwar ist man es gewohnt, dass sich die hiesigen Bauherren recht kreativ an dem versuchen, was sie für eine „feine Fassade“ halten, und so manches Verbrechen in Beige und Gelb ist zu bewundern. Doch, dieser kleine Rückgriff in die Geschichte sei mir erlaubt, heißt es nicht in der Bibel: „Und Gott sah, dass es gut war?“ Gott sah das allerdings, bevor er jene merkwürdige und der Verführung so zugetane Kreatur namens Mensch erschuf, die einer Schlange nicht bedarf, um ihren Herrn zu verraten. Auch die erwähnte Fassade nun ist in jeder Hinsicht ein Angriff auf die Harmonie und die gottgewollte Ordnung, sie ist, mit einem Wort: blasphemisch.
Dass die kapitalistische Marktordnung eine gottlose Gesellschaft hervorbringt, in der der Parvenü nach eigenem Gusto schalten und walten kann, weiß man, und Gottes Tod soll hier auch ausdrücklich begrüßt werden. Dass man allerdings so dreist auf das Grab des Herrn pinkelt, dass man seine Schöpfung auf eine solche Weise schändet, und das ohne sichtbaren Widerspruch, das, liebe Leute, ist in der Stadt, in der jede Traufhöhe akribisch nachgemessen wird, schon ein starkes Stück.
JÖRG SUNDERMEIER
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