: Heimspiel auf dem Weg nach oben
Triumphale Heimkunft der Lokalmatadoren: Nach krankheitsbedingter Zwangspause traten Seeed in der Arena auf, und es schien, als sei nur ihnen selbst ihr Erfolg unheimlich. Ganz Berlin ging in die Knie vor seinen allergrößten Dancehall-Helden
von THOMAS WINKLER
Durch den Yaam-Club zieht der Duft von Jerk-Hähnchen, afrikanischen Gewürzen und fettigen Bratwürsten, das Wasser der Spree schlappt sanft gegen die Kanalmauer und ein Scheinwerfer schreibt zehn Meter hoch und zwanzig Meter breit das Wörtchen „Seeed“ auf das benachbarte Bürohochhaus. Die Rückkehr Berlins feinster Dancehall-Band in ihre Heimatstadt wirft Schatten wie dereinst nur der Hilferuf von Gotham City an Batman. Allein: Die Ankunft von Seeed ist noch eine Spur triumphaler. Vor der seit langem ausverkauften Arena werden 60 Euro für Karten geboten, die Schlange vor dem Gästelistenschalter reicht quer über die Straße, Fritz überträgt fünf Stunden lang live und tausende drängeln sich im gewaltigen Saal. Im Publikum findet sich Prominenz von den anscheinend extra aus Stuttgart angereisten Massiven Tönen bis zum Seifenopernstar von GZSZ.
Doch vor die Heimkunft der Lokalmatadoren hat das Programm eine HipHop-Combo namens Schlechtwetterfront gesetzt. Die treten in Friesennerzen auf und machen es kurz und schmerzlos. Anschließend hüpft die Halle zum Roots Reggae des Gentleman aus Köln und winkt selig dem lieben Jah zu. Was von der Bühne aus wie ein kollektiver Kirchgang wirken mag, stellt sich etwas weiter hinten im Publikum allerdings eher wie harmlose Familienunterhaltung dar: Muttis stürzen mit ihrem Nachwuchs noch ein letztes Mal auf die Toilette, ein Haufen Zehnjähriger blockiert die Waschbecken und junge Mädchen gackern hysterisch.
Dieses Heimspiel von Seeed hätte bereits im Dezember 2001 stattfinden und ein Jahr beschließen sollen, in dem aus dem lokalen Geheimtipp ein bundesweites Phänomen geworden war. Der Frankfurter D-Flame, vor allem aber Seeed hatten bewiesen, dass Reggae und deutsche Texte zusammengehen. Plötzlich war die Band, die Pierre Baigorry zusammengestellt hatte, um seine Vision von Dancehall zu verwirklichen, nicht mehr nur eine fixe Idee, ein elf Mann starker organisatorischer und finanzieller Albtraum, der von nahezu jeder Plattenfirma abgelehnt worden war. Plötzlich waren Seeed auf dem Weg nach ganz oben. Der aber wurde unterbrochen, als sich der Vortuner ein Herpesvirus einfing, das sein Gesicht halbseitig lähmte. Anstatt den Erfolg von „Dickes B“ zu kapitalisieren, lag Baigorry monatelang im Krankenhaus.
Die Zwangspause hat offensichtlich nicht geschadet. Eher noch die Vorfreude gesteigert in der Stadt, der Seeed mit ihrem größten Charterfolg „Dickes B“ ein Denkmal gesetzt haben. Und vom ersten Tune an, dem „Riddim No. 1“, feiert die Halle ihre wieder gefundenen Helden. Doch als wäre ihnen der eigene Erfolg unheimlich, verweisen die drei Vokalisten immer wieder auf die Traditionen, zählen die Sound Systems wie Supersonic, Such A Sound oder Concrete Jungle auf, die über Jahre hinweg hierzulande Reggae-Aufbauarbeit geleistet haben. Ein Medley aus alten Offbeat-Klassikern quittieren sogar die altgedienten Skinheads mit vorsichtigen Tanzbewegungen, als letzte Zugabe spielen Seeed und Gentlemans Far East Band vereint „Lifely up Yourself“ von Bob Marley. Ein bisschen Lehrstunde muss sein, stört die Partywilligen aber nicht im Geringsten. Den nahezu zweistündigen Auftritt beschließt Baigorry mit einem nahezu verzweifelten Aufruf ans Publikum, nun nicht gleich aus der Halle zu stürzen, sondern der Dancehall-Kultur Respekt zu erweisen und zu den Riddims der noch folgenden Sound Systems das Tanzbein zu schwingen.
Der Moment allerdings, der die glorreiche Wiederkehr von Seeed wirklich symbolisierte, der war schon früher gekommen. Baigorry ließ das Publikum sich setzen und tatsächlich sank die Halle geschlossen darnieder. Eine seltsame, gespannte Stille kehrte ein. Baigorry zählte auf vier, alle sprangen auf, um dann wie befreit im Takt zu hüpfen. Deutlicher ging es kaum: Seeed sind zurück und Berlin ging in die Knie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen