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Empört über den Verlust der Unschuld

Bevor die Demonstranten am Samstag durch das Villenviertel flanieren, lädt Peter Grottian zum Gespräch mit den Bewohnern. Niemand kommt, der den Professor beschimpft. Vielmehr sind die Leute in Sorge um ihr Berlin

Provokation und Dialog, das muss kein Widerspruch sein. Auf beides setzt die „Initiative Berliner Bankenskandal“. Der Gruppe um FU-Professor Peter Grottian und den Attac-Aktivisten Birger Scholz ist es immerhin zu verdanken, dass die Bevölkerung noch als Faktor bei der Aufarbeitung der größten Finanzaffäre Berlins wahrgenommen wird. Bewohner des Villenviertels werden zum „Ratschlag“ mit dem Professor geladen, bevor mehr als tausend Demonstranten im Grunewald herumspazieren, vorbei an den Häusern von für das Finanzfiasko Verantwortlichen, das die Stadt aus ihrem sozialen Gleichgewicht bringt. Über ihre Angst vor Chaoten, vor Krawall und über die ganze Misere sollen die Bürger und Bürgerinnen diskutieren. Doch zur Überraschung aller findet sich niemand ein, der in Grottian das intellektuelle Feigenblatt einer Kaputtmachfraktion aus Kreuzberg sieht. Ganz im Gegenteil.

Eine Hand voll Leuten kommt in die Pizzeria am Roseneck. Darunter ein Siemens-Angestellter und Ostermarschierer; eine Frau, der Politiker lieber wären, die Fehler zugäben; ein Berlin-Skeptiker; eine Zeitungsleserin; eine fast 80-jährige Unternehmertochter, „in der sechsten Generation Berlinerin“; ein Nachbar Landowskys, der sich immer schon fragte, wie der CDU-Mann es schaffte, noch zwei Bankdirektorenposten zu bekleiden; ein Urheberrechtsfachmann, der letztes Jahr auf eigene Faust gegen Verantwortliche des Bankenskandals Klage einreichte – die aber abgelehnt wurde. Kaum einer der Anwesenden ist jünger als 60. Alle lieben Berlin.

Nach der obligaten Frage „Gibt es Ärger?“, die laut Grottian selbst von der Polizei verneint wird, kommt man ins Gespräch. Alle sind entsetzt: Bis zu 21 Milliarden Euro soll Berlin zahlen. Das sei mindestens so viel wie der Schaden, den die Elbeflut angerichtet hat. Aber noch immer werde das ganze Debakel von den Politikern heruntergespielt. Der Verlust politischer Moral komme dem Verlust der Unschuld gleich. Gerade die Älteren, die das Land nach dem Krieg wieder mit aufgebaut haben, ihm ein Gesicht gaben, wühle der Bankenskandal auf. Ganz im Gegensatz zur Annahme, dass Proteste immer von jungen Leuten ausgingen, bestätigte Grottian in gewiefter Befriedermanier, dass auch die „Initiative Berliner Bankenskandal“ von vielen älteren Leuten mitgetragen wird. Sie spüren, dass ein Konsens, den sie für nicht hinterfragbar hielten, von Leuten ihrer eigenen Couleur verraten wurde.

Die fast 80-Jährige bringt die alte Moral, die von Landowsky und Co. diskreditiert wurde, am deutlichsten zum Ausdruck. Sie kenne die Leute aus dem Skandalkreis persönlich. Noch heute scheint sie sich an das Entsetzen zu erinnern, das sie packte, als ihr Eberhard Diepgen vor Jahren auf einem Fest als kommender Bürgermeister vorgestellt wird. „Ein junger Rechtsanwalt. Und?“

Auf das Lamentieren folgt das „Wie weiter?“ Vorwärts blicken? Ein öffentliches Tribunal? Volksbegehren? Der Bankenskandal treibt die Massen nicht auf die Straße, wird argumentiert. „Weil sie die Zusammenhänge nicht verstehen.“ Einer der Anwesenden „outet“ sich als Unwissender. Was genau läuft, verstehe er nicht. So gehe es vielen.

Nach der Wahl werde Bewegung in das Ganze kommen, wird vermutet. Die ehemalige Finanzsenatorin Fugmann-Heesing und der frühere Daimler-Chef Edzard Reuter: beide saßen in Aufsichtsräten betroffener Banken, stünden immer mehr unter Druck. „Von Reuter bin ich besonders enttäuscht“, sagt die alte Dame. Wenn Fugmann-Heesing sage, was sie wisse, könnte es für ein paar SPD-Größen eng werden. Dass die PDS wiederum die Aufklärung verhindere, werde noch nicht einmal von der eigenen Basis verstanden. „Die PDS ist eine Schande für Berlin“, sagt die fast 80-Jährige. Grottian wirft den Namen „Steffel“ in die Runde. Er macht sich für Positionen der Bankenskandal-Initiative stark. Zwar sei das Taktik, aber Steffel habe verstanden, dass die CDU ihre Glaubwürdigkeit nur zurückgewinnt, wenn sie bereit ist, aufzuklären.

Ein langer Weg zur Wahrheit wird es werden, denn selbst Landesverbände des Bundes der Steuerzahler hatten Fondsanteile gezeichnet, erzählt Grottian. Allmählich, so berichtet der Professor, der die Politik auf der Straße lehrt, werden dennoch immer mehr Mosaiksteine des ganzen Desasters bekannt. Es sei eben doch wie die Flut. Zwar werden obendrauf weiter Sandsäcke zum Abdichten undichter Stellen gepackt, aber das Wasser sickere unten mit der Zeit durch.

WALTRAUD SCHWAB

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