Das Lächeln des Außenseiters

Er glaubt an das, was man früher die Dialektik von Bewegung und Parlament nannte

aus Berlin STEFAN REINECKE

Sein Fahrrad ist schwarz, alt und hat kein Licht. An der Stange klebt ein zerfetzter Aufkleber: „Täglich eine linke, radikale Tageszeitung“. Auf dem Gepäckträger klemmt ein lädierter Pappkarton mit seinem Notizbuch und Flugblättern, auf denen „Erststimme Christian Ströbele“ steht. Manchmal, vor allem auf dem Kopfsteinpflaster im Osten, droht der Pappkarton mit Flugblättern und Notizbuch, dem A und O seiner Wahlkampflogistik, herunterzufallen. Dann schiebt Christian Ströbele ihn geduldig wieder zurecht. Immer wieder.

Es ist ein warmer Sommerabend, viele sitzen hier, in der Simon-Dach-Straße in Berlin-Friedrichshain, draußen vor den Kneipen bei Pasta und Wein. Eher vorsichtig als zielstrebig steuert Ströbele einen Tisch an, sagt „Eine Empfehlung für den Kandidaten“ und legt ein Flugblatt auf den Tisch. Missmutig und knapp, in der finsteren Erwartung eines bettelnden Romakindes oder eines Zeitungsverkäufers, schauen die Leute auf das Gedruckte. Dann heben sie den Kopf und lächeln. Dieses Lächeln sagt: Hey, vor mir steht das Fernsehen. Dieses TV-Wiedererkennungslächeln ist die Basis von Christian Ströbeles Wahlkampf. Und er lächelt zurück.

Ströbele versucht das Unwahrscheinliche: Er will als erster Grüner per Direktmandat in den Bundestag einziehen, noch dazu in einem komplizierten Ost-West-Wahlkreis. Seine Konkurrenten von SPD und PDS haben mehr Geld, mehr Helfer, mehr Plakate. Und vielleicht auch mehr Wähler am 22. September. Denn er braucht 10 bis 15 Prozent mehr Stimmen als die Bündnisgrünen. Er braucht ein paar tausend PDS- und SPD-Wähler in Kreuzberg und Friedrichshain, die unbedingt wollen, dass er im nächsten Bundestag sitzt.

Das ist der Plan. Es gibt zwei Hürden: Erstens: Wahrscheinlich existieren diese paar tausend Wähler nicht. Weil die PDS in den Umfragen unter 5 Prozent gerutscht ist und nun 3 Direktmandate braucht, die die 5-Prozent-Klausel außer Kraft setzen. Nur zwei Wahlkreise, Marzahn und Lichtenberg in Berlin, gelten für die PDS als sicher. Und Kreuzberg-Friedrichshain könnte der dritte sein.

Und zweitens: Wenn es diese paar tausend doch gibt, wissen viele von ihnen nicht, was eine Erststimme ist.

Deshalb ist Ströbele hier und setzt seine stärkste Waffe ein: dass man ihn kennt. So sieht er hunderte Male an diesem Abend, zigtausende Male in diesem Wahlkampf das Fernseh-Wiedererkennungslächeln auf den Gesichtern. Er drückt seine Flugblätter kichernden türkischen Frauen mit Kopftuch in die Hand, Pennern und eiligen Hausfrauen, wohl situierten Bürgern und muskelbepackten Männern im Jogginganzug mit schwarzem Mercedes.

„Hau ab mit deiner Politik, geh zurück ins Fernsehen!“, raunzt in Friedrichshain ein Arbeiter. Aber das ist die Ausnahme. Meistens hört er: „Machen Se weiter so.“ Oder: „Ich wähle Sie sowieso.“ Viele schätzen ihn. Weil sie ihn aus dem Fernsehen kennen. Und, das sagen manche, weil er nicht korrupt sei.

„Ströbele, kommen Se ma her!“, ruft ein alter Frontstadtberliner in Kreuzberg über das Trottoir und erklärt, warum der Bolschewismus an der Flutkatastrophe schuld ist. Ein Junge in Prenzlauer Berg klagt, in sehr langen zehn Minuten, dass er zu wenig Bafög bekommt. Ströbele erträgt das geduldig und routiniert. Dabei hat er eigentlich wenig Talent für diese Touren. Ströbele raucht nicht und trinkt keinen Alkohol. Er ist disziplinert, freundlich, aber nicht charmant, er spielt nicht mit der Situation, er hält sie durch. Manche, vor allem im Osten, sagen ironisch: „Wir kennen uns doch aus dem Fernsehen.“ Ströbele antwortet dann: „Da kann man so schlecht zurückgucken.“ Einige wollen ein Autogramm, dann sagt der Kandidat unwillig: „Das mache ich eigentlich nicht“, und kritzelt eilig eine Unterschrift auf sein Foto.

Vielleicht heißt, was Ströbele hier tut, Imagewerbung – aber es ist das falsche Wort. Ströbele will, dass die Leute wissen, dass sie ihn wählen können. Und dass er, wie in dem Flugbatt steht, für Frieden, gegen illegale Parteispenden und für mehr globale Gerechtigkeit ist. Mehr will er nicht.

„Der Hund hat schöne Augen“, sagt er am Kottbusser Damm in Kreuzberg zu einem jungen Mann, der stumm und ziemlich nichtwählerhaft von seiner Bierdose aufschaut. Es ist das einzige Kompliment, das er in fünf Stunden macht. Er kann sich nicht verkaufen, sich nicht anpreisen, sich nicht präsentieren.

Ströbele war RAF-Verteidiger und Mitgründer der Berliner Alternativen Liste. Manche Medien zeichnen ihn gern als verbiesterten Ideologen, als ewigen Kreuzberger. Dieses Bild ist schief, doch es wird offenbar gebraucht. Je mehr die linken Grünen zerfielen, je mehr das 80er-Jahre-Kreuzberg zu einer Chiffre wurde, umso mehr wurde Ströbele zur medialen Metapher für beides. Vergessen wird, dass er Ende der 80er-Jahre realolike das rot-grüne Bündnis in Berlin schmiedete. In Kreuzberg hat er noch nie gewohnt.

Er hat in seiner Politkarriere alle möglichen Auf und Abs erlebt. 1991 musste er als Sprecher der Grünen, wegen seiner Israel-Kritik während des Golfkrieges, zurücktreten. Jetzt ist er 63. Er hat seinen Beruf als Rechtsanwalt und braucht den Bundestag nicht unbedingt – am 23. September droht keine Sinnkrise, kein Absturz ins Nichts.

Warum also will er auf Biegen und Brechen wieder ins Parlament? Warum 10-, 20-, 100-mal diese Tortur? Zumal er weiß, dass er ein kleines Wunder braucht, um sein Ziel zu erreichen.

Darauf gibt es mindestens zwei Antworten. Eine hat mit dem Gefühl zu tun, dass ein Unrecht geschehen ist und dass nun etwas bewiesen werden muss. Im Februar hat ihn die grüne Basis, unter tatkräftiger Mithilfe der Realos, bei der Kandiatenkür abserviert. Nach der Abstimmung war er minutenlang stumm sitzen geblieben. Christian Ströbele kennt Niederlagen. Er hat als Anwalt Prozesse verloren und als Politiker viele Kämpfe. Er ist nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Aber diese Niederlage machte ihn fassungslos. Danach hätte er fast aufgegeben.

Denn er ist in der Fraktion doch erfolgreich gewesen. Im Kohl-Untersuchungsausschuss hatte er hartnäckig nachgefragt, war dafür mit regelmäßigen Fernsehauftritten belohnt worden. Und er hatte den Spagat geschafft: das linke Antikriegsgewissen zu bleiben, ohne die Regierung zu demolieren. Und ohne sich, wie die Ludger Volmers der Partei, in einen der Exlinken zu verwandeln, die, wenn überhaupt, mit Bonusmeilen in die Schlagzeilen kommen. So einen wie ihn brauchen die Grünen doch. Und er begreift nicht, dass sie das nicht begriffen.

Deshalb macht er das. Weil er verletzt ist. Weil er zeigen will, dass es falsch war, ihn rauszuwerfen. Er will beweisen, dass die Realos irren, dass der starre Blick auf die Mitte eben nicht der Königsweg ist. Daher sein Trotz, daher der Wille, das Unwahrscheinliche zu probieren. Nur mit dem Osten, mit den Leuten, die ihn am 22. September wählen sollen, hat all das nicht viel zu tun.

Die PDS braucht das Direktmandat. Warum sollten ihre Anhänger da Ströbele wählen?

Es gibt noch eine andere Antwort. Sie war vor ein paar Wochen an einem Mittwochabend in Friedrichshain zu hören. Ströbele war beim Entwicklungspolitischen Stammtisch der Aktion Solidarische Welt eingeladen. Nach 10, 11 Stunden Parlamentsarbeit. Vor 30, 40 Leuten, vielen Grauhaarigen und ein paar jüngeren Attac-Sympathisanten.

Rot-Grün, sagte er, hat die Entwicklungshilfe noch unter das Niveau der Kohl-Zeit gesenkt. Der arme Süden muss seine Märkte öffnen, der reiche Norden schottet sich ab. Auch daran hat Rot-Grün nichts geändert. Getan hat sich etwas bei der Entschuldung, und viele im Regierungslager setzen sich für die Tobin-Steuer ein. Das steht auf der Habenliste, wenig, aber immerhin.

Er redete präzise, faktenkundig, differenziert. Ein Reformist, der an praktische Veränderung glaubt – nicht der graue Fundi, den manche Zeitungen aus ihm machen.

Und Ströbele erzählte von Genua, wo er sich für Demonstranten eingesetzt hatte, die bei Protesten gegen den G-8-Gipfel verhaftet worden waren. Damals hat er zum ersten Mal Attac-Leute getroffen. „Die waren so wie wir Ende der 60er, damals, als wir gegen den Vietnamkrieg demonstrierten. Genau so ernst und heftig“, sagt er. Und: „Sie kämpfen den gleichen Kampf gegen die wenigen, die vom Elend der anderen profitieren. Das war früher so, das ist noch immer so.“

Das klang ein bisschen zu pathetisch, auch altväterlich, wie eine schulterklopfende Belobigung von oben. Aber das ist der Kern seines Selbstverständnisses, es ist seine Rolle, der Grund, warum er seit Wochen in Friedrichshain durch die Plattenbauten läuft und Flugblätter verteilt. Er glaubt an das, was man früher die Dialektik von Bewegung und Parlament nannte. An das, was die grünen Karrieristen auf ihrem Marsch noch oben vergessen. In der Tat waren die Grünen lange taub für die Globalisierungskritiker, die doch nichts anderes wollten als die Partei vor kurzem noch selbst.

„Der Druck von der Straße ist wichtig. Das darf nicht aufhören.“ Er sagt das oft, er meint es ernst.

Am Ende der Tour, um halb elf Uhr nachts, steht er an der Greifswalder Straße in Ostberlin. Er war fünf Stunden unterwegs, ist 20 Kilometer Fahrrad gefahren und hat ein paar hundertmal „Eine Empfehlung für die Wahl“ gesagt, am Ende manchmal nur noch „Für die Wahl“. Auf der anderen Straßenseite ragt ein riesiger Plattenbaukomplex in die Nacht. „Da wohnen Tausende“, sagt Ströbele. „Und es gibt Außenbriefkästen.“ Seine Augen leuchten. Außenbriefkästen – das bedeutet, er kann schnell, billig und effektiv Wahlwerbung verteilen. Christian Ströbele hat keine Chance. Aber er nutzt sie.