: Jeder Weg ein Fluchtweg
Maja Hrabowska entkam dem Warschauer Ghetto, versteckte sich vor den Nationalsozialisten und floh vor den Kommunisten nach New York. Am 11. September rennt sie im World Trade Center erneut um ihr Leben. Die Geister ihrer Vergangenheit haben sie wieder eingeholt: „Ich ziehe das Unglück an“
aus New YorkKIRSTEN GRIESHABER
Flucht. Das ist der einzige Gedanke, der Maja Hrabowska am 11. September beherrscht. Lauf! lauf!, dröhnt es in ihrem Kopf, als sie die endlosen Treppenfluchten des brennenden World Trade Centers hinunterrennt. Nur wenige Etagen über ihrem Büro im 82. Stock ist vor wenigen Minuten das erste Flugzeug eingeschlagen. Die 72-jährige Bauingenieurin hält sich am Treppengeländer fest, stolpert die Stufen hinunter durch den schwarzen Rauch, rennt um ihr Leben.
Flucht ist die große Konstante in Maja Hrabowskas Leben. 1942 musste sie als junges Mädchen mit ansehen, wie ihre Mutter von deutschen Soldaten im Warschauer Ghetto erschossen wurde. Sie selbst stand schon am „Umschlagplatz“ des Ghettos und sollte in den Zug nach Treblinka verladen werden, als sie im letzen Augenblick fliehen konnte. Versteckt in einem Wagen der Müllabfuhr, entkam sie den Nazis und tauchte bis Kriegsende bei einer polnischen Familie unter. Maja Hrabowska überlebte den Holocaust als Einzige ihrer Familie. Ihre sechsjährige Schwester, den Vater, die Großeltern, Tanten und Onkel sah sie nie wieder.
Ein Wunder
Drei Jahrzehnte später war Maja Hrabowska wieder auf der Flucht, diesmal aus Polen. Der Terror des kommunistischen Regimes und der alltägliche Antisemitismus hatten sie aus ihrem Heimatland vertrieben. Geschieden und mit drei Kindern im Schlepptau kam sie 1974 nach New York. Ihren starken polnischen Akzent hat sie nicht verloren. „In Amerika“, sagt sie, „habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich sicher gefühlt.“ Dann fügt sie hinzu: „Aber den Fanatikern entkomme ich anscheinend nie, ob es nun Nazis, Kommunisten oder arabische Fundamentalisten sind.“ Die rundliche Frau mit den braunen Augen und kurz geschnittenen Locken redet mit leiser Stimme. Vergeblich sucht man in ihrem fast faltenlosen Gesicht nach Spuren des Leidens. Maja Hrabowska lächelt fast immer. Trauer oder Schmerz zeigt sie nicht. Selbst dann nicht, als sie erzählt, wie der Terror des 11. September die Erinnerungen an den Holocaust wieder lebendig werden ließ.
„Über eine Stunde dauerte es, bis ich mit meinen Kollegen endlich den Ausgang des World Trade Centers erreicht hatte. Wegen der Rohrbrüche standen wir bis zu den Knien im Wasser“, erzählt sie. „Noch schlimmer wurde es, als wir hinaus auf den Vorplatz ins Freie rannten.“ Denn in diesem Augenblick stürzte der Turm in sich zusammen, Maja Hrabowksa wurde von herabfallenden Trümmern zu Boden gerissen. Instinktiv kroch sie unter ein geparktes Auto und überlebte. Ein Wunder.
„Als ich mich endlich wieder unter dem Auto hervortraute“, erinnert sie sich, „kam ich mir vor wie in Warschau nach den Bombenangriffen. Die Leute irrten mit Panik im Blick und wahnsinnigen Gesichtern herum – genauso wie damals im Ghetto.“
Doch für lähmende Erinnerungen blieb Maja Hrabowska vorerst keine Zeit. Ihr Überlebensinstinkt waren stärker. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zur nächsten Straße und stoppte einen Autofahrer, der sie zur ihrer Wohnung an der Upper West Side brachte. Erst als sie sich zu Hause die verrußten Kleider vom Körper gerissen und geduscht hatte, begriff sie, dass sie einmal mehr überlebt hatte. Seitdem quälen sie wieder die Alpträume von früher.
Ein Trauma
Maja Hrabowska ist nicht die einzige Holocaust-Überlebende, deren alte Wunden seit dem 11. September wieder aufgebrochen sind. Die Psychologin Dr. Eva Fogelman betreut seit 1976 Holocaust-Überlebende in New York und berichtet, dass viele ihrer Patienten seit dem Terroranschlag mit traumatischen Erinnerungen zu kämpfen haben. „In dieser extremen Situation sehen sie sich wider Willen mit ihrer Vergangenheit konfrontiert“, erklärt Fogelman. „Ungewollt verfallen sie auch in ihre alten Verhaltensmuster während der schlimmsten Verfolgungsphasen zurück.“
Während Maja Hrabowska unter Aufgebot all ihrer Kraft versuchte, der Lebensgefahr zu entkommen, weiß die Psychologin von einem anderen Patienten, der sich in seiner Wohnung in unmittelbarer Nähe des World Trade Centers versteckte. Obwohl der gesamte Stadtteil evakuiert wurde, weigerte er sich trotz Polizeianweisung, das Haus zu verlassen. Der Mann hatte die Judenverfolgung in Deutschland nur überlebt, weil er sich über Jahre in einem Hinterzimmer versteckt hatte.
Auch Maja Hrabowska leidet wieder unter irrationalen Schuldgefühlen. Bis heute wirft sie sich den Tod ihrer Schwester vor: „Vielleicht hätte ich ihr Leben retten können – wenn ich mich nur mehr darum bemüht hätte. Überhaupt, warum habe ich überlebt und sie musste sterben?“ Diese Frage quält Maja Hrabowska auch, wenn sie an die Feuerwehrleute denkt, die an ihr vorbei ins World Trade Center stürmten und nicht zurückkamen: „Warum sie und nicht ich?“
Ein Gefühl
Viele Holocaust-Überlebende und ihre Familien beklagen seit dem 11. September, dass sie das Gefühl von Sicherheit verloren hätten. Bislang hätten sie sich als Juden in den USA immer geschützt gefühlt. Doch Dr. Fogelman, die selbst 1949 als Kind von Holocaust-Überlebenden in einem Auffanglager bei Kassel geboren wurde, weist nachdrücklich darauf hin, dass sich die beiden Ereignisse trotz vermeintlicher Parallelen nicht vergleichen lassen: „Der 11. September war für meine Patienten ein katastrophales Erlebnis. Doch es handelt sich hier um einen Tag – in Deutschland wurden sie über zwölf Jahre hinweg täglich erniedrigt und aufs Brutalste verfolgt.“ Juden wurden im Dritten Reich von allen Seiten bedroht: von der Regierung und der Gestapo, von Nachbarn, Lehrern oder Arbeitskollegen. In den USA dagegen kam die Bedrohung am 11. September von außen.
Wenn Maja Hrabowska einen schlechten Tag hat, sind ihr diese Unterschiede egal. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich ziehe das Unglück an“, sagt sie. „Als ich nach Warschau kam, fing der Krieg an. Als ich im World Trade Center arbeitete, wurde es von Terroristen mit Flugzeugen angegriffen. Das ist doch einfach nicht normal.“
Ein Stück Normalität ist alles, was Maja Hrabowska sich wünscht. Eigentlich, denkt sie, ist das doch nicht zu viel verlangt. Sie möchte einfach noch ein paar gute Jahre haben. Sie möchte weiter im Central Park spazieren gehen, sich mit Freundinnen treffen und von ihren acht Enkelkindern erzählen.
Ein Verdacht
Nie hätte Maja Hrabowska geglaubt, dass ausgerechnet sie, die einzige Holocaust-Überlebende ihrer Familie, einmal so viele Nachkommen haben würde. Wenn sie über ihre Familie spricht, lebt sie auf, vergisst den 11. September, sogar ihre Jugend im Ghetto. Ihr rundes Gesicht strahlt, stolz berichtet sie von den guten Studienergebnissen ihrer Enkel. Stundenlang könnte sie darüber reden.
Doch dann stockt sie. Ihre älteste Enkeltochter hat jetzt einen Freund, der aus Deutschland kommt. „Hübsch sieht er aus“, sagt sie langsam, „er ist groß, blond und hat blaue Augen. Wenn man ihn in eine SS-Uniform stecken würde, sähe er genauso aus wie die Soldaten im Ghetto.“ Sie hat ihn beim letzten Familientreffen gefragt, was seine Großeltern während des Krieges gemacht haben. „Ich will doch wissen, ob ich mit dem Enkelsohn von den Mördern meiner Eltern an einem Tisch sitze.“
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