09/11: Südasiatischer Stimmungswechsel
„Für einen Augenblick waren wir alle Amerikaner – aber nicht länger.“ Die kleine Wochenzeitung Nepali Times beschreibt den Stimmungswechsel, der sich im Verlauf des Jahres in den südasiatischen Ländern vollzogen hat. Die Implosion der silbernen Türme und die Endzeitbilder fliehender Menschen in den Straßenschluchten von Manhattan hatten, bis in die Kleinstädte und Armenhütten hinein, ein Gefühl des Grauens vor dem plötzlichen Einbruch „des Bösen“ ausgebreitet. Für einen Augenblick verschwanden die tief sitzenden Ressentiments gegenüber den USA.
Doch je länger die Amerikaner in endlosen Fernsehsendungen der Fassungslosigkeit und Trauer Herr zu werden versuchten, desto mehr wuchs die emotionale Distanz. Alte Vorbehalte und Unterlegenheitsgefühle kamen wieder hoch. Zur medialen Monopolisierung fügte sich rasch die Sonderstellung, welche die Amerikaner bald für sich reklamierten, wenn es um Vergeltung ging. Die südasiatischen Medien sind meist zu arm, um selbst in der afghanischen Nachbarschaft teure Fernsehteams zu stationieren. Sie deckten sich daher mit den Bildern – und teilweise Kommentaren – ein, welche die englischsprachigen westlichen Medien ausstrahlten. Zur Achtung vor der amerikanischen Kriegsmaschine und dem Applaus über die Vertreibung der Taliban gesellte sich bald die Angst vor der Eigenmächtigkeit, mit der die USA sich das Recht nehmen, andere Länder anzugreifen.
Die Gedenkartikel zum Jahrestag zeigen wiederum das alte USA-Bild, wie es vor dem 11. September herrschte, verdüstert durch die doppelte Realität einer wieder auferstandenen amerikanischen Rüstungsindustrie und einem moralischen Überlegenheitsanspruch. Im „Krieg gegen den Terror“ erscheinen die USA nicht als Sieger, sondern als künftige Verlierer, da sie, wie der in Südindien erscheinende New Indian Express schreibt, „sich keinen Deut kümmern um die tiefer liegenden Ursachen des Terrorismus“. Sie seien gefangen in ihrer Obsession, den Terror mit Waffengewalt auszumerzen, und könnten sich deshalb kein Erlahmen leisten, „weil sonst das Interesse des amerikanischen Publikums rasch abbrechen könnte“.
Die meisten südasiatischen 09/11-Rückblicke münden daher in einem Ausblick auf den „kommenden Krieg gegen den Irak“. Sie sehen ihn als Teil einer Dramaturgie der Dämonisierung des Anderen, die von der Kriegsindustrie und der ideologischen Rechten ebenso wie von der „Bildergier der Medien“ diktiert wird. Die Allmacht in der medialen Vermittlung der Welt, welche die USA mit den Ereignissen vom 11. September erworben haben, korrespondiert mit einer universalen Ohnmacht über die Kontrolle der Emotionen, die diese auslösen. BERNHARD IMHASLY
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