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Fröhliche Republik Kreuzhain

Wahlbezirke Teil 4: Friedrichshain-Kreuzberg ist lustig Linksland. Alle Kandidaten mögen sich, sind gegen Krieg und für Spaß. Nur einer meint es ernst: Christian Ströbele schlägt seine letzte Schlacht

Was verbindet die beiden Bezirke: Alte Bausubstanz.Neues Lebensgefühl.

von ROBIN ALEXANDER

In der Simon-Dach-Straße werden wirklich große Milchkaffees serviert. Fast einen halber Liter Koffein stürzt Andreas Matthae die Gurgel herunter: Er braucht schon um halb zehn morgens reichlich Stoff, der ihn wach hält. Die meisten, die hier in Friedrichshain wohnen, dem jüngsten der Berliner Szenebezirke, sind so früh am Tag noch gar nicht aus dem Bett. Und der 33-Jährige sieht mit kahl geschorenem Kopf, schlacksigen Bewegungen und ironischem Dauerlächeln auch aus wie einer, der öfter unter der Woche spät ins Bett geht und spät wieder rauskommt.

„Von wegen!“, Matthae leckt sich den Milchschaum von den Lippen: „Sieben Uhr. Frühverteile. An der U-Bahn.“ Matthae hat ein krudes Hobby: die SPD. Der jüngste Direktkandidat, den die älteste Partei Deutschlands jemals aufgestellt hat in Berlin, soll Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost gewinnen. Ein schwieriger Wahlkreis: die ärmsten Bezirke, die jüngste Bevölkerung und grob gespalten in Ost und West sowie fein unterteilt in Kleinstmilieus: Von den Hipstern im Prenzlauer Berg über die DDR-Systemträger am Platz der Vereinten Nationen, die Kneipenszene um die Simon-Dach-Straße, die frustrierten Originalfriedrichshainer, natürlich die Kreuzberger Alt-Alternativen und die jungen Türken mit deutschem Pass, seit kurzem gibt es eine russlanddeutsche Nachbarschaft am Mehringplatz genau neben den Arabern. Und und und. Matthae seufzt schwer geKreuzberg-stresst: Jedes Grüppchen hat seine eigene Identität und speziellen Problemchen. Und was das Nervigste ist: Der Gegenkandidat heißt Ströbele.

Es ist wie in der Geschichte vom Wettrennen zwischen Hase und Igel. Wo immer der umtriebige Matthae aufkreuzt, ist Ströbele schon da. Nicht nur in persona, sondern auch als Begriff. Seine Geschichte – im Spiegel, in den Tagesthemen und in der taz wieder und wieder erzählt – ist in den Köpfen präsent. In Kreuzberg sowieso. Aber auch in Friedrichshain: Matthae muss sich höflich vorstellen und die Schreibweise seines Nachnamens erklären. Ströbele muss nur nicken: „Ja, ich bin’s.“ Ich, Hans-Christian Ströbele, der gegen die rot-grünen Kriege gestimmt hat. Ich, Ströbele, der Kohls kriminelle Konten anprangerte. Ich, Ströbele, der jetzt ums erste grüne Direktmandat in der deutschen Geschichte kämpft.

Ströbele steht zur Wahl. Nicht seine Partei. Er ganz allein.Und die Leute wollen auch nur ihn sehen. „Verteile ich persönlich Werbung, werde ich vier mal soviel Flyer am Abend los wie meine Helfer ohne mich.“ Wie immer, wenn er um Glaubwürdigkeit ringt, bemüht er die Vergangenheit: „Ich war immer gegen Kopfplakate.“ Jetzt hat er das schon legendäre Comicplakat. „Diese Personality-Show ist mir eigentlich unangenehm“, sagt Ströbele. Aber alternativlos: „Ich mache etwas Besonderes: Keinen Mobilisierungs-, sondern einen Überzeugungswahlkampf“. Meint: Ströbele wirbt nicht für die Grünen, sondern er argumentiert, dass „es jetzt in dieser spezifischen Situation an diesem Ort richtig ist, Ströbele zu wählen“.

Der Reporter trifft Ströbele am Rande der Haushaltsdebatte des Bundestages. Wofür er im Parlament eingetreten ist, dafür will er wieder reingewählt werden: Für den Frieden. Gegen die Käuflichkeit. Für soziale Gerechtigkeit „auch Nord-Süd“. Deutschland reicht einem Ströbele nicht und der Wahlbezirk schon gar nicht: „Ich sage den Leuten ganz offen: Ob Eure Schulen hier saniert werden oder nicht, entscheidet nicht der Bundestag.“ Matthae hingegen muss seine Milchkaffees in der Simon-Dach-Straße nicht bezahlen. Er ist selbst Wirt einer Kneipe und hilft seinen Kollegen beim Streit mit Ämtern und Anwohnern.

Ströbele steht für Kreuzberg. Matthae lebt dort. Hier war er Schüler am Hermann-Hesse-Gymnasium „mit linken PW-Lehrern“. War Erzieher in einem Schülerladen, „wo sechzehn Eltern sechzehn anstrengende Chefs bedeuten“. Wurde lieber linker Sozialdemokrat als Grüner. Die 90er verbrachte er damit, in der SPD gegen die große Koalition in Berlin zu stänkern und die Annäherung an die PDS vorzubereiten. Zuerst gab es dafür Ärger, aber nachdem Rot-Rot tatsächlich Machtoption wurde, protegierte die SPD-Führung Matthae. Die Präambel des rot-roten Koalitionsvertrages geht auf seine Vorlage zurück.

Ströbele (63) und Matthae (33). Wer etwas über diese Männer erfahren möchte, trifft sich am besten mit einer Frau, die beide gut kennt: Bärbel Grygier (47), PDS-Kandidatin, Bundestagsabgeordnete, ehemalige Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg. Sie spricht voller Zärtlichkeit über ihren verbissen kämpfenden Gegner: „Das arme Christian“ entschlüpft es ihr sogar einmal in der neutralen Niedlichkeitsform. Redet Grygier über Ströbele, schwelgt sie „in weiblichen Beschützerinstinkten“. Er sei „im Kern ein Romantiker“, der es nicht übers Herz bringe, anzuerkennen, dass seine Grünen nicht mehr sind, was sie einmal waren. Auf Podiumsdiskussionen fragt sie ihn immer neckisch: „Wann kommste denn endlich in die PDS, Christian?“ Aber ernst sagt sie: „Der muss sein grünes Projekt ganz allein beerdigen“.

Grygiers Genossen sind schon sauer auf ihre Kandidatin: Ihrem Wahlkampf fehle es an Härte. Weil man merkt, dass sie Ströbele eigentlich in den Arm nehmen will. Und Matthae mag sie auch noch. Mancher Zug durch die Gemeinde, den Grygier unternimmt, endet fröhlich in Matthaes Kneipe „Sol y Sombra“ am Oranienplatz. Und warum sollte sie sich politisch von jemandem abgrenzen, der dafür sorgte, dass sie mit SPD-Stimmen zur Bürgermeisterin gewählt wurde? „Matthae hat damals Mut bewiesen.“ Grygier kombiniert das angenehm unverkrampfte Selbstbewusstsein in der DDR sozialisierter Frauen mit Kreuzberger Lässigkeit: „Ich habe noch nie die Arme-einzelne-Frau-Nummer gezogen.“ Kurze Pause: „Würde man mir wohl auch nicht abnehmen.“

Die Abgeordnete Grygier kann ein in der PDS rares Gut vorweisen: Erfahrung in der Exekutive und in der Zusammenarbeit mit dem politischen Gegner. „Der Bundestag ist der letzte Platz, in dem Zusammenarbeit mit der PDS noch nicht normal ist.“ Grygier, die im vergangenen Jahr Gregor Gysis Mandat erbte, bewarb sich um die eigene Nominierung bei den Genossen mit einem Versprechen: „Hole ich den Wahlkreis, trete ich auch in die PDS ein.“ Dass sie damals noch immer parteilos war, hatten nicht wenige schon vergessen.

Je länger der Wahlkampf in Kreuzberg und Friedrichshain dauert, desto absurder werden Podiumsdiskussionen und Kandidatentreffen: Alle Kandidaten scheinen sich immer einig – untereinander und auch mit dem Publikum. Könnte FriedrichshainKreuzberg nur eigene Gesetze erlassen! Das Militär wäre längst abgeschafft. Die Vermögensteuer läge bei 80 Prozent. Alle Drogen wären legal – und wahrscheinlich auch gratis. Der geballte Linksdiskurs färbt ab: Neulich outete sich sogar der chancenlose CDU-Kandidat Kurt Wanssner überraschend als „Gegner aller Militäreinsätze“.

Wer wird das Rennen am Ende machen? Ströbele hat die wirkungsmächtigste Kampagne, die größten Verdienste und seit dem Umschwung der Umfragewerte wieder das Argument: „Wer soll in der Regierung gegen den Krieg sprechen, wenn nicht ich?“ Grygier hat die konzentrierte Unterstützung der PDS und das Argument: „Wir brauchen drei Wahlkreise in Berlin, sonst fliegt die Friedenspartei vielleicht aus dem Bundestag.“ Matthaes Hoffnung ist, dass nur die SPD sowohl in Ost als auch in West stark ist. Sein Argument: „Stoppt Stoiber“.

Erst in der letzten Woche vor der Wahl wird es ein bisschen hektischer: Eine Ströbele-Initiative bittet Grygier öffentlich, zur Wahl des Gegners aufzurufen. Spaßvögel überkleben die Comic-Plakate mit „Jede Stimme für Ströbele nutzt der SPD, nicht dem Frieden“. Aber das sind eher Ruppigkeiten als Bösartigkeiten. Ist der entspannte Umgang miteinander vielleicht eine Gemeinsamkeit der frisch vereinigten Bezirke Kreuzberg und Friedrichshain? Das Sein bestimmt das Bewusstsein, doziert Grygier grinsend, und meint: „Alte Bausubstanz. Neues Lebensgefühl.“

taz-Veranstaltung mit allen Kandidaten: Montag, 16. Sept., 19:30 Uhr, Umspannwerk Ost, Palisadenstr. 46

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