: Schaurig-spekulativ: Das Orgelgenie aus Holz und Stoff
Figurentheater für Erwachsene: Mit „Schlafes Bruder“ startete das Festival „Begegnungen“. Die Uraufführung des „Theatrium“ bot eine Galerie markanter Charaktere
Ein Mann mit ein wenig Holzmasse und Stoff in den Händen. Dazu, als Bühnenbild, Teile alter Holzschränke, ein paar Requisiten, Licht- und Toneffekte. Mehr braucht es im Theatrium nicht, um die schaurigschlimme Mär vom genialen Musiker Johannes Elias Alder zu erzählen – dessen Talent in einem Bergdorf verkümmerte, in dem jeder Bauer durch Inzucht degeneriert war und keiner ohne hochtragische Konsequenzen auch nur „Grüß Gott“ sagen konnte.
Detlev Heinichen ist dieser Puppenspieler, in dessen Händen das Genie, eine hässliche Alte, ein neidischer Organist, eine wahnsinnige Mutter, ein hilfloser Vater, eine Feuergöttin mit langen roten Zöpfen und noch viel mehr Figuren (man hört bald auf zu zählen) lebendig werden. Geschrieben wurde die Bühnenadaption vom Autorenduo Renato Grüning und Pit Holzwarth von der Bremer Shakespeare Company.
Die kantigen, von Mattias Hänse entworfenen Figuren bekommen tatsächlich von der ersten Bewegung an jeweils einen eigenen, sehr markanten Charakter: Die so entstehende Galerie komischer, trauriger, böser, erbärmlicher oder dumpfer Persönlichkeiten ist das Schöne an diesem Theater.
Über die Vorlage kann man allerdings streiten. Und wer den Bestseller von Robert Scheider nicht gelesen oder zumindest den Film nicht gesehen hat, wird sich nur mit Schwierigkeiten zurechtfinden. Da geht es schon recht holterdipolter durch den Plot – die Dramaturgie bestand schlicht darin, die knalligsten Szenen aneinander zu reihen. Warum etwa Johannes beim Finale, direkt nach seinem einzigen richtigen Konzert, plötzlich an seinem Stein im Heimatdorf sitzt, wo er sich entscheidet, nie mehr zu schlafen („Wer schläft, liebt nicht“) und dann auch in Rekordzeit stirbt, ist für den unbelesenen Zuschauer nun wirklich schwer nachzuvollziehen.
Anderseits besteht aber die Vorlage im Grunde auch nur aus einer Aneinandereihung von spekulativen und schaurigen Szenen. In Frankreich und England heißt solch ein effektheischender Erzählstil „Grand Guignol“, und „Guignol“ ist das klassische französiche Puppentheater. Da schließt sich also schön ein Kreis, wenn Schneiders kitschige, bombastische Geniekult-Geschichte (ebenso wie seine geschraubte Sprache tiefstes 19. Jahrhundert) wieder auf der Puppenbühne landet. Und Heinichen macht in der Tat das Beste aus der Vorlage.
Er versteckt sich nicht etwa hinter der Bühne, sondern ist als Spieler und Erzähler immer sichtbar. Er verzichtet auf die fadenscheinige Illusion der von unsichtbarer Hand bewegten Figuren, und wenn er mit seiner durchaus massigen Körperlichkeit auf seine kleinen Geschöpfe herunterblickt, ist dies auch eine ironische Anspielung auf den gottgleichen, allwissenden Erzähler.
Es gibt viele schöne Regieeinfälle und besonders schön ist es, wenn sich Heinichen selber über die beschränkten Ausdrucksmittel lustig macht: So wirft er Federn in die Luft, aber seine Puppe muss dennoch „Ach, es schneit“ sagen. Grosser Lacher! Überhaupt sind er und sein Stück dann am sympathischten, wenn sie Schneiders Pathos ein wenig niedriger hängen – das Umhergetapse des schusseligen Pfarrers wirkt eindrucksvoller als die apokalyptische Vison, bei der Blut aus einem Kopf tropft.
Aber es gibt auch einen wirklich gruseligen Effekt: Wenn Johannes sich seines Genies bewusst wird, zerstört dies auch das Kind in ihm: Diese brutale Umwandlung macht Heinichen spürbar, indem er das Gesicht der Figur tatsächlich kaputtschlägt. Die Zerstörung der Puppe weckt Urängste, und das ist schon sehr geschickt gemacht.
Wilfried Hippen
„Schlafes Bruder“ läuft morgen, am 20., und am 25. 9., jeweils um 20 Uhr sowie im Oktober. Die nächste Produktion des Figuren-Festivals „Begegnungen“ (bis 20. Oktober, exklusiv für Erwachsene, mit Aufführungen u.a. am Goetheplatz, im Jungen Theater und in der Shakespeare Company) ist „Das Bildnis des Dorian Gray“ vom Puppentheater der Stadt Halle (21. September, Schauspielhaus).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen