Wonne und Widerspruch

Unter der Leitung von Gérard Mortier will die Ruhrtriennale Identitäten bauen und Kultur vermitteln. Die ersten Produktionen überzeugen gerade dann, wenn sie all diese guten Vorsätze vergessen

von MORTEN KANSTEINER

Die Bühne: ein Boxring. An allen vier Seiten sitzen die Zuschauer auf frisch gezimmerten Stufen. Dahinter ragen Leinwände empor: Das Publikum und die Spielfläche, auf der die Sopranistin Christine Schäfer und der Pianist Irwin Gage Schuberts „Winterreise“ vortragen, sind von einem Quader aus Projektionsflächen umschlossen. Nach und nach türmen sich dort die Wellenberge eines rechnergenerierten Meeres, und als beim vierten Lied der „Winterreise“ die Triolen mit Macht hervorströmen, schlägt das Wasser über allem zusammen. Die Stimme der Sopranistin und das digitale Wasser schwellen gemeinsam, schwemmen etwas nach oben, das sanft gegen den Solarplexus drückt. Das muss die Sehnsucht sein.

Wenn das Meer meterhoch wogt, steht diese „Winterreise“, die Oliver Herrmann für die erste Ruhrtriennale inszeniert hat, in der Tradition des Films als Spektakel. Die Geburt des Kinematografen aus dem Geiste des Jahrmarkts und die Multiplex-Ära sind ihr dann näher als der Konzertsaal. Als Leiter der Ruhrtriennale wendet sich Gérard Mortier gegen eingefahrene Rezeptionsgewohnheiten. Nicht zuletzt deshalb ist er von Salzburg nach Gelsenkirchen gezogen: Ihn trieb die Frage um, wie Schubert die Spaßgesellschaft überlebt. Mit dem neuen Festival will er erproben, wie kanonische Kultur abseits der etablierten Theater zu vermitteln ist.

Oliver Herrmann ist einer effizienten Methode auf der Spur, wenn er die Nervenzellen mit Wassermassen sättigt. Die Schubert-Massage ist die Message. Doch an die Stelle des Reizes treten bald die Zeichen: Aufnahmen von Ruhrgebietsmenschen, die Rolltreppen herunterfahren, von Männern mit Malochertaschen und Frauen mit Baumwollbeuteln. Mit der Subtilität einer Wahlwerbung verkünden die Bilder, dass auch alkoholkranke Arbeitslose Wanderer auf Winterreise sind, dass die Hochkultur allen zukommt.

Mit solchen Ruhrpott-Ansichten soll das Leiden am Strukturwandel gelindert werden, das ist das zweite Ziel der Ruhrtriennale. Wenn die nordrhein-westfälische Landesregierung für die ersten drei Jahre 41 Millionen Euro ausgibt, geschieht das nicht allein im Namen der Kunst. Er wolle das Selbstbewusstsein der Einheimischen aufbessern, erklärt Mortier. Die Ruhrbewohner, meint er, seien auf der Suche nach einer funktionstüchtigen Identität.

Damit mag er Recht haben. Aber die Kunst tut gut daran, solche Defizite nicht allzu direkt zu bearbeiten. Was sonst droht, zeigt die Produktion, mit der das Festival vor gut zwei Wochen begonnen hat: „Deutschland, deine Lieder“ liefert deutsche Identität – und zwar dicke. Da ist zunächst das autochthone Liedgut: Bach, Schubert, Nena, Rio Reiser und Drafi Deutscher, kunstvoll verquirlt vom Sounddesigner und Komponisten Parviz Mir-Ali. Darunter mischt sich ein einschlägiger Text von Albert Ostermaier: der Monolog von Wolf, den der Tod seines Vaters nach langen Jahren im Ausland zurück nach Deutschland geführt hat. Wolf will mit Vaterland und Vergangenheit eigentlich nichts zu tun haben und versinkt doch in eine nationale Nabelschau. Erinnerungen an Kinderstreiche und den Fascho-Nachbarn vermischen sich mit Spekulationen über den unbekannten Vater. Das Gefallen an der Sprache tritt gegen das Unbehagen an der Geschichte an. Neben dem Nazi taucht als zweite urdeutsche Figur der 68er auf, der seine Nachkommen per Definitionsmonopol peinigt. Selbstreflexive Wendungen sorgen für das unangreifbare Finish: „Mein Vater ist nur eine Fiktion.“

Matthias Hartmann illustriert Text und Gesang mit ebenso brillanten wie redundanten Bildern. Wenn Wolf über Handschläge grübelt, erscheinen Hände auf den Wänden der Bühne, wenn „Junimond“ erklingt, ein Mond. Nirgends tut sich Widerspruch auf. So viel Wolf auch zweifelt – alles dient letztlich der Bestätigung: dass er der brave Bundesbürger ist, ein Vorzeige-Subjekt für den Kurs in Leitkultur.

Von diesem Identitäts-Einklang hebt sich die jüngste Produktion der Ruhrtriennale ab. Auch sie betreibt Bühnenarbeit auf Liedbasis, aber erzeugt daraus beträchtliche Spannungen. Hier gibt es sogar einen echten Feind. Nicht nur tote Nazis oder imaginierte 68er, sondern das lebendige Böse: Es heißt George W. Bush. In seiner Inszenierung von Eislers „Hollywood Elegien“ klärt Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, über haarsträubende Details der US-Einwanderungspolitik nach dem 11. September auf. Und auch die Kritik, die Brechts Texte der „Elegien“ an der amerikanischen Kulturindustrie üben, macht sich die Inszenierung zu Eigen. Sie erzählt die Geschichte einer Schauspielerin, die als Preis für Macht und Ruhm ihre Ideale aufgibt: Gerührt zeigt Nadja Petri eine Oskar-ähnliche Trophäe her und stempelt sich damit ein H – wie „Hollywood“ – auf den Hals.

Zugleich begibt sich die Produktion mit Wonne in den Selbstwiderspruch. Sie nutzt ganz selbstverständlich die Mittel jener Unterhaltungsindustrie, von deren Kolonialismus sie erzählt. Kamerun zitiert den Glamour des Hollywood-Musicals; er schickt den Magier Michael Muerte auf die Bühne, den Siegfried und Roy persönlich für seine Entertainment-Qualitäten ausgezeichnet haben; er lässt Irm Hermann im Kostüm einer Star-Wars-Herrscherin auftreten. Die Traumfabrik der Vierzigerjahre, erklärt sie, sei „ein großer Teil dessen, was wir heute für Wirklichkeit halten“.

Eislers Musik, könnte man einwenden, geht in dem Ganzen unter. Strukturgewandelte Ruhrbewohner kommen gar nicht erst vor. Die Festivalziele Kulturvermittlung und Identitätskonstruktion werden also souverän ignoriert. Womöglich liegt es daran, dass man der Ruhrtriennale diese „Hollywood Elegien“ unbedingt als Erfolg anrechnen muss.