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Die Selbstkontrolle zurückgewinnen

Den einen stellen sich beim bloßen Gedanken daran die Nackenhaare auf, für die anderen ist es eine willkommene Erweiterung der Palette des Suchthilfeangebots: Ein fester Trinkplan soll verhindern, dass Alkoholabhängige ihrer Sucht einfach nachgeben

Es sei aber wichtig,die Hürden für Abhängige nicht zu hoch zu legen

von NATHALIE HEINKE

„Wie lange soll das gut gehen?“ steht in großen Lettern auf der Homepage der Alkohol-Hilfe geschrieben. Direkt daneben blinkt ein großer Button mit den Aufschrift „Initiative gegen das kontrollierte Trinken.“ Unverantwortlich sei es, heißt es da, dass Leute, von denen man eigentlich annehmen sollte, sie hätten die nötigen Fachkenntnis, zu diesem gefährlichen Versuch animieren.

Eine Zeitbombe sei der kontrolliert trinkende Alkoholkranke. Das kontrollierte Trinken, nichts anderes als ein schleichender Rückfall, das nicht einmal zur Befriedigung des Trinkverlangens führe, schreibt der Autor der Seite, und ein ganzes Bataillon an Einzelpersonen und Selbsthilfegruppen schließt sich ihm an. Sein schwerwiegendster Vorwurf: Das Programm animiere abstinente Alkoholiker, wieder zur Flasche zu greifen.

„Das ist weder der Fall noch unsere Absicht“, stellt Joachim Körkel klar. Der Professor für Psychologie an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg hat das Programm in Deutschland auf den Weg gebracht. „Grundsätzlich ist Abstinenz ein erstrebenswertes Ziel, doch für manche Menschen ist diese Hürde einfach zu hoch“, erklärt er.

Nicht die Abstinenten zum Trinken will der Suchtforscher animieren, sondern vor allem die große Gruppe der Vieltrinker erreichen. Nach seinen Angaben haben rund 10,4 Millionen Menschen in Deutschland ihren Alkoholkonsum nicht im Griff, und etwa 3,4 Millionen Menschen kämpfen mit akuten Alkoholproblemen. Mit diesen Zahlen steht der Psychologe nicht allein da: So schätzt auch die Suchtkrankenhilfe-Organisation des Blauen Kreuzes, dass etwa 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung einen riskanten Alkoholkonsum haben und 2,7 Millionen Bundesbürger missbräuchlich mit Bier, Wein und Co. umgehen, weitere 1,5 Millionen sind laut Blauem Kreuz akut alkoholabhängig.

„Aber nur 5 Prozent aller Alkoholabhängigen unterziehen sich irgend einer Form von professioneller Suchtbehandlung“, sagt Körkel. Und alle anderen, auch solche, die bereits missbräuchlich über die empfohlenen Richtwerte trinken, würden mit den herkömmlichen Hilfe- und Informationsangebot überhaupt nicht erreicht.

Doch was bedeutet es eigentlich, kontrolliert zu trinken? „Statt aufs Geratewohl Alkohol zu trinken, erfolgt der Alkoholkonsum nach einem festen, selbst erarbeiteten Trinkplan“, erklärt der Psychologe. Ob Vieltrinker aber, die schon seit Jahren an der Flasche hängen, kontrolliert trinken lernen können, das bezweifeln Kritiker. Ihr Einwand: Von Süchtigen könne man keine Kontrolle erwarten. Diese Kritik erhebt etwa der Würzburger Suchtforscher Jobst Böning gegen das kontrollierte Trinken.

Zwar hält er das Programm bei Menschen, die Alkohol missbräuchlich konsumieren, für geeignet, aber für kontraindiziert bei schwerer Sucht. „Der Verlust der Kontrolle und der Freiheit ist ein Kriterium für Abhängigkeit“, sagt er. Der Abhängige trinke wider besseres Wissen; obwohl der Konsum gesundheitliche und psychische Nachteile mit sich bringe. Und: „Schwere Abhängigkeit schreibt sich immer auch in das Gehirn des Betroffenen ein, und zwar tief in den alten Hirnstamm, der etwa auch für Nahrung und Sexualität zuständig ist“, sagt er.

Langjährige Abhängigkeit führt seiner Theorie nach zum Suchtgedächtnis. Die Veränderung könne man zwar im Gehirn nicht sehen, wohl aber anhand von Untersuchungen nachweisen, etwa welche Areale im Gehirn aktiviert werden, wenn der Proband ein bestimmtes Getränk gezeigt bekäme. „Das Suchtgedächtnis reagiert auf bestimmte Schlüsselreize wie etwa Geruch oder bestimmte Erfahrungen“, erklärt Böning. „Dadurch werden alte Bedürfnisse wieder geweckt.“ Gerade auch bei Rückfällen kommen seiner Ansicht nach diesen suchtmittelassoziierten Schlüsselreizen eine besondere Rolle zu.

Mit Bönings Theorie des Suchtgedächtnisses kann Körkel wenig anfangen: „Das Modell erklärt alles und nichts“, bemängelt er. Nicht einmal der Begriff „Suchtgedächtnis“ sei genau definiert. So erkläre das Modell etwa nicht, wie es ein trockener Alkoholiker in seiner Lieblingskneipe ohne Alkohol aushalte, da doch sein „Suchtgedächtnis“ massiv aktiviert werden müsse.

Auch den totalen Kontrollverlust hält der Psychologe für einen Mythos: „Natürlich zeichnet sich Sucht durch eine Einschränkung der Kontrolle aus, aber selbst Schwerstabhängige bringen noch eine Teilkontrolle auf“, entgegnet er „Wenn ein obdachloser Alkoholiker zur Sozialhilfe geht, hat er vorher seinen Konsum auch gemäßigt, weil er weiß, dass er dort nicht volltrunken erscheinen kann“, erklärt Körkel. „Und diese Kontrollfähigkeit versuchen, wir schrittweise zurückzugewinnen.“

Zwar ist nach dem medizinischen Standpunkt körperlich süchtig, wer an Entzugserscheinungen leidet, doch wo genau beginnt die psychische Abhängigkeit? Wer nicht mehr verzichten kann, selbst wenn Familie, Beruf und Alltag unter dem Konsum leiden? Oder ist schon der süchtig, der täglich seine Flasche Wein zum Abendessen leert und sich statt eines Nachtischs einen Absacker gönnt?

„Die Grenzen zwischen missbräuchlichem Umgang mit Alkohol und Abhängigkeit sind fließend“, weiß Michaela Alten-Schnell von der Frankfurter Fachambulanz für Suchtkranke, die die Caritas betreibt. Als eine der Ersten in der Bundesrepublik bietet die Regionalstelle des gemeinnützigen Vereins seit einem Jahr ein ambulantes Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken an.

10,4 Millionen Deutsche haben ihren Alkoholkonsum nicht im Griff

Die Ursache von Sucht und was sie ausmacht sei immer noch nicht hinreichend erforscht. Als Suchttherapeutin befürwortet Alten-Schnell das Programm zum kontrollierten Trinken, weil es neue Zielgruppen erschließt: „Wir sehen das Programm als Ergänzung zum herkömmlichen Hilfeangebot, durch das mehr Menschen erreicht werden können“, erklärt sie. Zwar hätten sich bislang nur wenige Betroffen zu einem Kurs angemeldet, aber rund 100 Betroffene hätte man durch die Informationsabende oder per Telefon erreicht. „Und dadurch ergeben sich neue Ansatzmöglichkeiten“, sagt Alten-Schnell.

„Das Programm soll Menschen ermutigen, sich in einem ersten Schritt überhaupt erst einmal mit ihrem Alkoholproblem auseinander zu setzen“, bestätigt auch Körkel. „Viele Betroffene betrachten sich nicht als klassische Klientel“, bekräftigt Alten-Schnell. Sie identifizierten sich nicht mit dem Bild des Alkoholikers, der Hilfe bei der Suchtberatung sucht. „Statt dessen handelt es sich bei Menschen mit Alkoholproblemen nicht selten um Menschen in höheren Positionen“, sagt sie. „Und die haben einiges zu verlieren.“ So etwa auch die angenehmen Seiten des Alkohols. „Das Gläschen zum guten Essen etwa wollen sich viele Betroffene erhalten, Abstinenz aber bedeutet Verzicht“, erklärt Alten-Schnell.

Ob sich Vieltrinker tatsächlich nur den Genuss erhalten wollen oder aber am Konsum festhalten, eben weil sie längst abhängig sind, bleibt dabei offen. Fest steht: Gerade weil der Alkohol auch positive Gefühle hervorruft, erscheint die Abstinenz für viele Trinker zunächst so wenig verlockend. „Und wenn diese Angst sie abhält, sich Gedanken über ihren Alkoholkonsum zu machen, kann das kontrollierte Trinken ein erster Schritt sein“, sagt Alten- Schnell.

„Das kontrollierte Trinken blickt zurück auf 30 Jahre solider Forschung, etwa aus Großbritannien“, sagt Körkel. „Bei uns spielt sich im Moment nicht die Weltrevolution ab, so wie manche glauben machen möchten.“ In Australien werde das kontrollierte Trinken in zwei von drei Einrichtungen angeboten und auch etwa in Skandinavien sei das Programm als ein Angebot der Suchthilfe völlig normal. Und: „In Deutschland wird jeder Zweite nach mehrmonatiger stationärer Abstinenz im Laufe eines Jahres rückfällig“, betont Körkel. Es sei ein Irrglaube, dass Abstinenzbehandlungen die großen Erfolge brächten, Ansätze zum kontrollierten Trinken dagegen Misserfolge nach sich zögen: „Der Erfolg kommt nicht über Nacht, weder beim Vorsatz der Abstinenz und auch nicht beim kontrollierten Trinken“, sagt Körkel. Es sei aber wichtig, die Hürden für Abhängige nicht zu hoch zu legen, „denn das bremst aus“.

„Unsere Erfahrungen zwei Jahre nach Programmende besagen, dass es zwei Drittel der Teilnehmer gelungen ist, vom Programm gut zu profitieren; 50 Prozent der Teilnehmer reduzieren ihren Konsum um die Hälfte und mehr, 15 bis 20 Prozent gehen ganz zur Abstinenz über, die verbleibenden 30 Prozent haben ihr Trinkverhalten nicht geändert.“ Aber auch bei diesen Teilnehmern sieht Körkel nichts verloren, da ein Teil weitermacht und etwa eine Therapie beginnt. „Und manche, die erst abgebrochen haben, rufen nach einiger Zeit wieder an“, erzählt Alten-Schnell. Auch sie zieht eine ähnlich positive Bilanz: Zwar habe der Alkoholkonsum seit Ende des Programms im Januar wieder leicht zugenommen, „die Menge liegt aber noch deutlich unter dem Niveau, das die Teilnehmer vor dem Seminar hatten“, berichtet die Therapeutin.

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