das kleinere übel von KARL WEGMANN:
Es ist vollbracht – aber noch nicht vorbei. Gerade noch lag das große Übel vorn, jetzt ist wieder das kleinere Übel besser. Ist das spannend? Nö, nicht wirklich.
Seit der ersten Prognose trinken wir Bier, starren in die tonlose Glotze und bewegen uns kaum. Manchmal sagt auch einer was. „Ströbele, nicht schlecht“, grunzt zum Beispiel Bernd, aber meist hört man nur irgendwelche „Bähs“ oder „O-Gotts“. Willy schiebt eine neue CD ein, doch wir hören nicht richtig zu. Dann plötzlich „Atomic“ von Blondie. „Ist das irgendwie als Kommentar zur Wahl gemeint“, frage ich Willy, „so nach dem Motto: Der Atomausstieg wird fortgesetzt, oder so?“ – „Nee, nee“, Willy winkt ab, „das Stück gehört zur Filmmusik von „Kick it like Beckham“. „Was ist das?“, fragt Hermann, „ein Fußballfilm?“ – „So was Ähnliches“, antwortet Willy, „es geht da um indische Mädchen, die lieber kicken als kochen.“ – „Toll“, meint Hermann. „Ja“, sagt Willy und liest von der CD-Hülle ab: „Who wants to cook Aloo Gobi, when you can bend a ball like Beckham?“ – „Ich“, nickt Hermann, „ich würde lieber Aloo Gobi kochen.“ – „Fauler Fresssack“, sagt Willy. Hermann lächelt selig.
Das Drama in der Glotze wird immer fader. Willy ersetzt die Filmmusik durch Merle Haggards „Wishing all these old things were new“, und Bernd schnappt sich die neue Blickpunkt: Film und beginnt zu blättern. „Hört euch das an“, grinst er, „die Firma Magmafilm aus Essen beantragt Titelschutz, und zwar für ‚Schlampen im Spermawahn‘ und für ‚Lesben Inferno‘, in allen Schreibweisen, Darstellungsformen und Wortverbindungen für alle Medien.“ – „Das wird die moderne Filmkunst sicher einen großen Schritt voranbringen“, behauptet Hermann, kippt sein Bier auf Ex und öffnet gleich ein neues. „Das und die Tatsache, das Hollywood jetzt Gewehr bei Fuß steht“, erzählt Willy. „Da gibt’s nämlich jetzt die Gruppe ‚Hollywood 9/11‘, und die passt auf, dass den Ölfelderoberen im Weißen Haus nicht mehr ans Bein gepinkelt wird. Früher war es ganz normal, wenn die US-Regierung in Action-Filmchen als blöd und böse dargestellt wurde. Jetzt ist das verboten.“ – „Und wer sich nicht daran hält, wird in einem Football-Stadion öffentlich ausgepeischt“, ergänzt Hermann. „Genau“, spinnt Bernd weiter, „öffentliche Auspeitschungen und Erschießungen finden an jedem ersten Sonntag im Monat statt, und zwar so lange, bis alle Ölfelder erobert sind.“ – „Das kann dauern“, überlegt Hermann. „Ach was“, meint Willy, „die fangen bestimmt bald an, Klartext zu reden: Ölfeld her oder Atombombe aufs Dach.“
Bernd zappt ein wenig herum, findet aber auf fast allen Kanälen das gleiche bunte Theater. Rot, Grün, Schwarz, Gelb – es gibt nur noch vier Farben an diesem Sonntag. Wir öffnen neue Flaschen, hören alte Musik und teeren unsere Lungen. Als es dann schon längst Montag ist, steht fest, dass das kleinere Übel gewonnen hat. Wir stoßen ein letztes Mal auf Ströbele an, und Hermann meint: „In ein paar Wochen geht’s im Irak los. Dann wird das Fernsehprogramm endlich wieder etwas spannender.“
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