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Fragwürdige Entscheidungen

Obwohl schon lange dafür geworben wird: Patientenverfügungen über einen vorzeitigen Behandlungsabbruch sind rechtlich nicht verbindlich. Dies soll sich demnächst ändern

Wie Missbrauch verhindert werden kann, beantworten die GutachterInnen nicht

von KLAUS-PETER GÖRLITZER

Während in Deutschland die Bundestagswahl die Schlagzeilen beherrschte, begann in Belgien fast unbemerkt eine neue Ära: Dort trat am Montag das „liberalste Euthanasiegesetz der Welt“ in Kraft. Es ermöglicht, dass ÄrztInnen schwer kranke PatientInnen auf deren Wunsch straffrei töten können – und zwar auch dann, wenn die „unheilbare“ Krankheit oder das „dauerhafte psychische Leiden“ des Betroffenen nicht in absehbarer Zeit zum Tode führen würde.

Zentrale Voraussetzung ist die schriftliche Einwilligung des Lebensmüden. Das gilt auch für den Fall, dass der Betroffene sich nicht mehr äußern kann: Hat er zu einem früheren Zeitpunkt in einer so genannten Patientenverfügung erklärt, er wolle im Fall von Bewusstlosigkeit und unheilbarer Krankheit umgebracht werden, können ÄrztInnen diesen Auftrag straffrei ausführen. Auf welche Weise „vorsätzlich das Leben beendet“ werden darf, lässt das Gesetz offen – seine Formulierung legitimiert die Giftspritze ebenso wie das Abbrechen von Beatmung, Sondenernährung oder Dialyse.

Das Gesetz war Mitte Mai mit einer Mehrheit aus Liberalen, Sozialisten und Grünen im belgischen Parlament beschlossen worden. Damals hagelte es Proteste aus Deutschland. PolitikerInnen und ÄrztevertreterInnen verwahrten sich einmütig gegen die Zulassung „aktiver Sterbehilfe“. Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Professor Jörg-Dietrich Hoppe, mahnte: „Das belgische Gesetz widerspricht der weltweit geltenden Verpflichtung von Ärzten, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern.“ Und er fügte hinzu: „Wenn wir uns dieser Entwicklung nicht mit aller Macht entgegenstellen, werden wir wohl eines Tages dazu kommen, dass schwer kranke Menschen eine Genehmigung einholen müssen, um weiterleben zu dürfen.“

KritikerInnen der belgischen Regelungen werden wohl bald Anlass haben, sich auch deutschen Entwicklungen entgegenzustellen. Hierzulande wird wahrscheinlich nicht die Legalisierung der Giftspritze auf die politische Agenda kommen, wohl aber die rechtliche Absicherung von Behandlungsverzichts-Erklärungen. Für entsprechende „Patientenverfügungen“ wird zwar schon seit Jahren geworben; Vordrucke und Formulierungshilfen gibt es zum Beispiel bei Ärztekammern, Sozialbehörden, Kirchen und Hospizvereinen. Doch noch sind solche Papiere in Deutschland rechtlich nicht verbindlich. Wer seinen Willen nicht mehr ausdrücken kann – etwa nach Schlaganfall, im Koma oder bei fortgeschrittener Demenz – kann per Vorabverfügung keinen Arzt dazu zwingen, ihn durch Abbrechen von Beatmung oder Sondenernährung ersticken oder verhungern zu lassen.

Allerdings könnte sich die Rechtslage bald ändern – wenn der neue Bundestag einem Gutachten folgt, das einflussreiche BioethikerInnen im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) geschrieben haben. Unter dem Titel „Möglichkeiten einer standardisierten Patientenverfügung“ erschien das Werk vor wenigen Wochen als Buch. „Das vorliegende Gutachten“, so Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in einem Grußwort, „wurde von einem großen interdisziplinären Expertenteam erstellt, dem alle namhaften Kapazitäten auf diesem Gebiet angehörten.“

Tatsächlich handelt es sich um eine Auswahl von BioethikerInnen, die unter dem organisatorischen Dach der Göttinger „Akademie für Ethik in der Medizin“ agieren und seit Jahren für eine Ausweitung der „Sterbehilfe“ werben, darunter der Philosoph Dieter Birnbacher (Düsseldorf), der Jurist Hans-Georg Koch (Freiburg) und der Philosoph Hans-Martin Sass (Bochum).

Sie beklagen, dass sich die Rechtsprechung in Deutschland bislang nicht eindeutig zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen geäußert habe. Sie sehen daher „Gesetzgebungsbedarf“ und wünschen sich die „Etablierung von Patientenverfügungen als Rechtsinstitut“. Ein einheitliches, standardisiertes Musterformular lehnen die GutachterInnen ab; stattdessen empfehlen sie, Richtlinien zu Form, Datierung, Aufbewahrung und Bekanntgabe von Patientenverfügungen aufzustellen.

Nachgedacht haben die BioethikerInnen auch darüber, wie ein behandelnder Arzt garantiert erfahren kann, dass ein nicht ansprechbarer Kranker irgendwann eine Erklärung auf Behandlungsverzicht hinterlegt hat. „Nachahmenswert“, heißt es im Gutachten, sei die „Einrichtung eines gesonderten staatlichen Registers, wie dies in Dänemark praktiziert wird“. Dort sind MedizinerInnen verpflichtet, bei einem Zentralregister anzufragen, ob eine Verfügung vorliegt. Trifft das zu, sollen ÄrztInnen den Kranken durch Abbruch der Behandlung ums Leben bringen, falls er dies einst schriftlich festgelegt hat und als unheilbar gilt.

Dass Verbreitung und Registrierung solcher Verzichtspapiere nicht nur individuelle, sondern auch sozialpolitische Konsequenzen haben können, ist auch den BioethikerInnen klar. „Eine überwiegende Ablehnung medizinischer Maßnahmen in der Sterbephase“, schreiben sie, „würde möglicherweise ökonomische Ressourcen freisetzen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass Verfügungen nicht als ökonomische Konsolidierungs-Instrumente missbraucht werden. (…) Insbesondere ältere Menschen, die möglicherweise leichter beeinflussbar oder sogar abhängig sind, müssen auch vor der Ausübung eines subtilen Druckes bewahrt werden, der ihnen nahe legt (womöglich aus ökonomischen Motiven) rechtzeitig eine Verfügung zu erstellen.“ Ob und wie in Zeiten chronisch knapper Kassen „Missbrauch“ und „Druck“ überhaupt verhindert werden können, beantworten die GutachterInnen allerdings nicht.

Das BMG wollte bisher nicht verraten, was es von der bioethischen Auftragsarbeit hält, der Meinungsbildungsprozess zum Gutachten sei „noch nicht abgeschlossen“, verlautbart die BMG-Pressestelle auf Anfrage.

Initiativ werden wollen zwei HinterbänklerInnen aus dem Regierungslager. Rolf Stöckel (SPD) und Irmingard Schewe-Gerigk (Bündnis 90/Die Grünen) kündigten im Wahlkampf gemeinsam an, sie würden in der kommenden Legislaturperiode einen Gesetzentwurf „für ein selbstbestimmtes, humanes Sterben“ vorlegen. Vor allem „im Umgang mit Patientenverfügungen“ sehen beide „dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf“. Zumindest Stöckel hat eine Mission: Er ist Bundesvorsitzender des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), der dafür wirbt, „Sterbehilfe auf Wunsch“ gesetzlich zu ermöglichen. Als Dienstleistung gegen Gebühr bietet der HVD an, Patientenverfügungen zu verwahren und „im Notfall auch durchzusetzen“; rund 1.500 solcher Behandlungsverzichts-Erklärungen sollen zurzeit beim HVD lagern.

Nicht locker lassen will auch die Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin. AEM-Geschäftsstellenleiter Alfred Simon sagt, noch in diesem Jahr wolle der Bioethiker-Verein einen eigenen Gesetzentwurf zur „Sterbehilfe“ veröffentlichen. Ein zentraler Punkt werde die „gesetzliche Verankerung von Patientenverfügungen als Rechtsinstrument“ sein. Außerdem will die AEM gesetzlich erlaubt sehen, dass Betreuer nichteinwilligungsfähiger PatientInnen befugt sein sollen, stellvertretend den „Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen“ zu verlangen, wobei dieser Antrag richterlich genehmigt werden müsse.

Hintergrund des geplanten Vorstoßes ist der anhaltende Juristenstreit um die Auslegung des Paragrafen 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches, den das Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) im Juli 1998 mit seinem spektakulären „Sterbehilfe-Urteil“ ausgelöst hatte. Das OLG hatte entschieden, dass bei einer Komapatientin die Ernährung per Magensonde abgebrochen werden dürfe, wenn die bewusstlose Betroffene mit dieser tödlichen Unterlassung „mutmaßlich“ einverstanden sei und außerdem ein Vormundschaftsgericht den entsprechenden Antrag des Betreuers genehmigt habe. Diese kreative Interpretation des Paragrafen 1904 BGB, die aus seinem Wortlaut wahrlich nicht herauszulesen ist, wird seitdem in der Fachliteratur kontrovers diskutiert. Gleichwohl erhob der Vorstand der Bundesärztekammer die Auffassung des Frankfurter OLG kurzerhand zum „Stand der Rechtsprechung“ und übernahm sie in seine „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung“, die er im September 1998 bekannt gab.

Politiker wie Wolfgang Wodarg (SPD) und Hubert Hüppe (CDU), die wieder in den Bundestag gewählt worden sind, hatten den Frankfurter Gerichtsbeschluss und die Ärztekammer-Grundsätze scharf kritisiert. Hüppe forderte damals, gesetzlich klarzustellen, dass Paragraf 1904 BGB keine Anspruchsgrundlage für den tödlichen Behandlungsabbruch biete. Falls der Gesetzgeber weiter passiv bleibe, ist laut Hüppe „zu befürchten, dass wir ärztliche Richtlinien, eine gefestigte Rechtsprechung und eine eingeübte Praxis des Nahrungsentzugs mit Todesfolge bei betreuten Patienten bekommen“.

Regierung und Parlament warten seitdem ab. Die rechtspolitische Initiative scheinen nun ausschließlich diejenigen in Bundestag, Ministerien und Universitäten zu ergreifen, die „selbstbestimmte“, tödliche Behandlungsabbrüche in Deutschland legalisiert sehen wollen.

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