Wo sind die Helden?

„Die fahren doch immer nur im Kreis!“ Was ist eigentlich dran an der Formel 1? Eine Liebeserklärung, aber mit Trauerflor

von MEIKE JANSEN

Meine Liebe zur Formel 1 lässt sich an einem Datum festmachen, am 1. Mai 1994. Ungefähr einen Monat zuvor war in meinem Freundeskreis die große Trauer ausgebrochen – Kurt Cobain hatte sich erschossen. Nach diversen Interviews und Konzerten mit Nirvana war ich nicht in der Lage, in den Totengesang einzustimmen. Helden sind halt nur Helden, wenn man ihnen nicht zu nahe kommt. Alles, was ich bis zum Ableben Cobains von ihm mitbekommen hatte, bedingte keine Tränen. Oder fahren Sie gerne in einem Tourbus mit brennenden Gardinen durch Bremen, fischen aufgequollene Gummibärchen aus dem Salat, der für andere MusikerInnen eines Festivals gedacht war?

Nach achtjähriger Mitarbeit in einem kleinen Musikklub nahe Bielefeld war das Musikgenre zur Heldensuche für mich abgegrast. Entweder stellten sich die begnadeten GitarristInnen oder SängerInnen als dumme Rockstars heraus, oder sie waren viel zu nett und normal, als dass ich sie auf ein Podest geschubst hätte. Da ich gerade für Arminia Bielefeld arbeitete, die just in die zweite Liga aufgestiegen waren, fiel auch dieser Bereich zur Heldenakquise aus. Wer jetzt fragt, warum man überhaupt Helden in seinem Leben braucht, sei auf den enormen Entspannungswert einer Welt zwischen Gut und Böse hingewiesen.

Als aufgeklärter Mensch ist mir die Schizophrenie eines solchen Wunsches wohl bewusst, aber was soll’s, wenn das Herz entscheidet. Dann ist es mir doch lieber, ich bete einen Menschen an, der, wie im Falle Ayrton Sennas, aus mir vollkommen unerklärlichen Gründen in achthundert PS starke Schuhkartons steigt und mit Spitzengeschwindigkeiten von 375 km/h über den Parcours jagt. Zudem besitze ich keinen Führerschein, was den Motorsport, vor allem die Formel 1, besonders mystisch in meinen Augen erscheinen lässt.

Am 1. Mai 1994 hing ich wie meistens an Sonntagnachmittagen auf meinem Hochbett und entspannte mich beim sonoren Motorengeräusch der Grand-Prix-Wagen. Nach dem Rücktritt von Nelson Piquet, Alain Prost, Michele Alboreto und Riccardo Patrese waren von den großen alten Helden, deren Namen ich zumindest noch kannte, nur noch Ayrton Senna und Helmut Berger übrig. In dieser Saison hatte ich mich das erste Mal dazu entschieden, Partei für einen Piloten zu ergreifen und das Schwarzweißspiel voll auszukosten. Berger erzielte zwar den ersten Sieg seit vier Jahren für Ferrari, dümpelte aber ansonsten im Mittelfeld und stand deshalb nicht auf meiner Heldenwunschliste. Michael Schumacher, der die Rennen zum Saisonauftakt in Brasilien und Japan gewann, interessierte mich nicht. Sein schmales Lächeln, das mich an langweilige BWL-Studenten erinnerte, warnte mich vor zu viel Anerkennung. Zudem produzierte sein Rennstall Benetton in der Wirklichkeit Oberbekleidung schlechter Qualität, wovon ich mich in diversen Italienenurlauben mit meinen Eltern überzeugt hatte.

Ausschlaggebend für die Wahl Sennas war einerseits meine Liebe zum brasilianischen Fußball sowie sein soziales Engagement, das, wie ich meinte, einen Ausgleich zu der Sinnlosigkeit des Motorsports und der damit verknüpften Luftverschmutzung bot. Die Wahl war also gefallen, und das dritte Rennen der Saison musste für Senna die Wende bringen, war er doch bei den ersten beiden nicht einmal bis ins Ziel gekommen. Im Qualifying verunglückte Ruben Barrichello schwer. Wie durch ein Wunder kam er mit einer Gehirnerschütterung davon. Die Formel 1 schien also doch sicher, die verschärften Sicherheitsmaßnahmen auf der Strecke funktionierten vermeintlich.

Doch bereits am darauf folgenden Tag kam es zu einer Tragödie. Der Österreicher Roland Ratzenberger raste mit seinem Simtek Ford aufgrund eines gebrochenen Frontflügels mit über dreihundert Stundenkilometern in eine Betonmauer und starb. Natürlich war mir klar, dass ein Unfall bei solchen Geschwindigkeiten lebensgefährlich sein kann, aber nach acht Jahren ohne tödlichen Unfall verdrängte ich wie viele andere das Risiko. Nach diesem Schock beraumten die Fahrer unter der Führung Ayrton Sennas eine außerordentliche Sitzung für den folgenden Montag an, in der Sicherheitsfragen besprochen werden sollten – zu spät, wie sich am Rennsonntag herausstellte. Schon der Start läutete ein Katastrophenrennen ein. Pedro Lamsy raste mit seinem Lotus in den liegen gebliebenen Benetton von J. J. Letho. Umherfliegende Teile verletzten neun ZuschauerInnen.

Nach einer kurzen Safety-Car-Phase, in der die Fahrer im langsamsten Tempo hintereinander fahren müssen, wurde das Rennen fortgesetzt. Senna wurde in Führung liegend von Schumacher gehetzt. Doch in der zwanzigsten Runde war es vorbei. Der Williams von Senna raste in der Tamburellokurve geradeaus durch das Kiesbett. Ein Grund war nicht ersichtlich. Er fuhr die Kurve ignorierend einfach weiter geradeaus und schlug ein. Leblos saß Ayrton Senna da Silva, der Erzengel, wie man ihn nannte, in seinem Auto.

Das Rennen wurde fortgesetzt, und Michael Schumacher konnte seinen dritten Saisonsieg in Folge einfahren. Gegen 19 Uhr erreichte mich die Schreckensnachricht: Ayrton Senna ist tot. Nach 161 Formel 1 Grand Prix, bei denen er 65-mal auf der Poleposition stand, 41-mal siegte und alles in allem 13.645 Kilometer lang in Führung lag, war meine kurze, aber umso heftigere Liebe von mir gegangen, gestorben in Pflichterfüllung, dem Publikum eine spektakuläre Show zu bieten. Also auch für mich.

Ich sackte zusammen. Immer noch sehe ich den lachenden Schumacher auf dem Treppchen von Imola. Wie konnte er sich nur an einem Wochenende, an dem ein Kollege ums Leben kam und das Schicksal eines weiteren noch unklar war, über seinen Sieg freuen? Nicht feiern, das versteht sich von selbst. Aber sollte er sich nicht so weit unter Kontrolle haben, nicht zu lachen? Mittlerweile hat Schumacher gelernt, in solch sensiblen Situationen entsprechend zu reagieren. Meine Achtung hat er damals verspielt. Respekt als Fahrer: ja. Als Held: bleib mir weg!

Am späten Abend fühlte ich mich matt und bedrückt. Ich weinte und kam mir furchtbar albern dabei vor. Auf der Suche nach Gleichgesinnten zog es mich in meinen Stammclub. Doch die Anteilnahme meiner Umwelt hielt sich arg in Grenzen. Ich musste mir anhören, dass der Tod des Gummibärchenwüterichs Cobain doch wirklich tragischer gewesen wäre. „Senna? Die fahren doch nur im Kreis!“ Zum Glück fand ich noch einen einsam vor sich hin leidenden Menschen. Stillschweigend betranken wir uns.

Die Jahre kamen und gingen, und immer wieder hing ich mit einem Auge am Formel-1-Zirkus. Enthusiasmus mochte nicht mehr aufkommen. Ein Held war weit und breit nicht in Sicht. Schumacher wurde Weltmeister, allerdings nur der Zweitjüngste, was mir immerhin ein wenig Genugtuung verschaffte. (Emerson Fittipaldi war 1972 noch jünger).

Beruhigt nahm ich zur Kenntnis, dass es auch noch andere Gebiete gab, in denen ich nach Helden recherchieren konnte. Ich griff mir eine Hand voll Regisseure aus dem unendlichen Pool. Scorsese, Jarmusch, Tarkowski und wie sie alle heißen. Nach zwei Jahren war das Genre durchgearbeitet. Die Helden produzierten zu langsam, wenn sie nicht ohnehin schon tot waren. Und von toten Helden hatte ich genug, und überhaupt nahm das Ganze inflationäre Züge an.

Ich merkte, mein Held braucht eine andere Geschwindigkeit als 24 Bilder pro Sekunde, und so kehrte ich 2000 reumütig zur Formel 1 zurück. Ich schenkte mein Herz spontan dem jungen Engländer Jenson Button, der bei Williams zum jüngsten Grand-Prix-Piloten avanciert war, der jemals WM-Punkte sammeln konnte. Der Erfolg des damals Zwanzigjährigen war kein Zufall, sondern ein Produkt der guten Ausbildung im englischen Kartsystem.

Dort werden die Startplätze der Rennkids bei mindestens drei Einzelläufen in Gruppen ausgelost, sodass jeder Fahrer in mindestens einem Rennen pro Wochenende von recht weit hinten und einmal bestenfalls aus dem vorderen Mittelfeld losfahren darf. Dadurch bekommen die englischen Fahrer auf dem Durschmarsch nach vorn zwangsläufig auch eine gehörige Portion Kampfkraft und Überholmut beigebracht.

Die fast demokratische Regelung gefiel mir, und schon war die Entscheidung gefallen. Mittlerweile ist der 22-Jährige, der für Renault startet, der RTL-Berichterstattung zum Opfer gefallen. Selbst bei einem Rennen wie in Monza, an dem Button auf den fünften Platz fuhr, bleibt sein Name unerwähnt. Es ist eben nicht die Zeit für die wahren Helden.

MEIKE JANSEN, 34, ist Veranstaltungsmanagerin der taz und ohne Führerschein und Auto