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Wo die Kadaver rollen an den Strand

Umweltverbände und Behörden streiten sich über die tatsächlichen Ursachen des Seehundsterbens in Nord- und Ostsee. Derweil ist bereits fast die Hälfte des Bestandes verreckt. Es herrscht Ratlosigkeit unter den ExpertInnen

Putzige Knopfaugen, neckische Neugier, Seehunde sind gut für ein positives Image der deutschen Küsten. Zurzeit ist dieser Imageträger total out. Denn bis jetzt sind vom gesamten Seehundbestand – rund 30.000 Tiere – mehr als 13.000 verreckt.

StrandwanderInnen treffen überall auf Kadaver. An Spitzentagen findet man an der niedersächsischen Küste über 200 an dem Staupevirus eingegangene Tiere. Die Behörden warnen vor dem Berühren der Tiere. Für Reiner Schopf, Inselvogt auf der ostfriesischen Vogelinsel Memmert, war die Katastrophe vorhersehbar. „Das Immunsystem der Tiere ist zerstört. Schuld ist die Dauerbelastung der Tiere mit Umweltgiften“, so Schopf.

Ein ähnliches Sterben gab es 1988. Fast zwei Drittel des Seehundbestandes verendete, aber genaue Untersuchungen gab es nicht. „Sicher ist, die Tiere haben sich an Klappmützenrobben aus dem Polarmeer mit dem Staupevirus infiziert. Warum sie hier so massenhaft sterben, wissen wir nicht,“ meint Michael Stede vom Veterinärinstitut für Fische und Fischwaren in Cuxhaven. Er wurde jetzt von der Bezirksregierung Weser-Ems in einen Expertenrat der trilateralen Wattenmeerkonferenz entsandt. Diese niederländisch-dänisch-deutsche Konferenz will sich demnächst mit dem Massensterben der Seehunde befassen.

Zu spät, meinen Naturschützer. Die Seehunde wurden mit dem Staupevirus infiziert, darüber sind sich alle einig. Zusätzlich wurden sie von Bakterien und Parasiten befallen, gegen die sie sich nicht wehren können. Warum? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Verwunderlich ist, nicht in allen Regionen sterben gleich viele Tiere an der Infektion. Joke van der Meer, ein Sprecher des Wattenrates, einem Zusammenschluß lokaler Naturschützer in Ostfriesland: „Die Sterberate steigt vom Polarmeer bis zu den Niederlanden ständig an.“ Greenpeace hat dafür eine einfache Erklärung: „Die Sterberate steigt im dem Maße an, in dem die Verseuchung der Nordsee ansteigt“, so Manfred Krauter von der Organisation. Greenpeace macht lang wirkende Dauergifte für das Seehundsterben verantwortlich. Solche Gifte sind laut Greenpeace krebserregende bromierte Flammschutzmittel (Dämmmaterial für Elektrogeräte), Organozinnverbindungen (als Kleintier tötende Biozide in Schiffsanstrichen), Chlorparaffine (in Dichtungsmasse und Kabelverkleidungen) PCB (Stabilisatoren für Kunststoffe) und viele mehr. Seehunde stehen am Ende einer Nahrungskette und gelten alshoch belastet.

Niemand bestreitet, dass die Nordsee „sauberer“ geworden ist. Allein durch den Crash der DDR-Industrie werden fast ein Drittel weniger Schadstoffe in die Nordsee eingeleitet. Aber: „Man soll doch nicht so dumm sein, zu glauben, die Schadstoffe würden so einfach verschwinden“, meint Reiner Schopf. Meeresbiologen des Niedersächsischen Landesamtes für Ökologie stellen resigniert fest: „Wir wissen nicht, welche Chemikalien im Meeresboden sind, wie die Chemikalien reagieren und auch nicht, welche neuen Chemikalien die Industrie ins Meer leitet.“

1988 und 2002 begannen beide Staupe-Epidemien beim dänischen Anholt in der Ostsee. In der Nähe gibt es Nerzfarmen. Nerze transportieren ein ähnliches Virus, das auch die Seehunde dahinrafft. Laut Umweltministerium Schleswig-Holstein gibt es keinen Nachweis über das Virus in den Farmen. Aber: „Über verwilderte Nerze haben wir keine Daten.“ Ob die Kadaver der Nerze, als Fischfutter zermahlen und mit Medikamenten belastet, ins Meer gelangen, weiß auch niemand. Eine „natürliche“ Regelung des Seehundbestandes wegen zu knapper Nahrung, schließen alle ernst zu nehmenden KommentatorInnen aus.

„Wir wissen nicht, ob der Höhepunkt des Seehundsterbens erreicht ist“, sagt Folkert Wiesner, Sprecher des niedersächsischen Umweltministeriums. Und weiter: „Wir hoffen, dass die Totfunde im Herbst zurückgehen.“ Schließlich sind dann Rangkämpfe, Paarung, Geburt und Aufzucht der Heuler abgeschlossen und die Seehunde wandern ab. Im nächsten Jahr kommen sie wieder – mit Virus?

Thomas Schumacher

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