: Die zweite Schröderatur
DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH
Stimmen und Geld sollen wir dem Staat geben. Legt man Wahlzettel und Steuererklärung nebeneinander, drängt sich auf: Wo es der Staat eher mal so in etwa und wo er ganz genau wissen will. Umgekehrt wäre es reizvoll, auf dem Steuerformular schlicht „keine Kohle“ anzukreuzen und zur Urne den professionellen Wahlberater zu schicken. „Ich blicke ja längst nicht mehr durch in dem Politwirrwarr, aber mein Wahlberater kennt alle Tricks, der legt die Jungs jedes Mal gut rein.“ Stattdessen haben wir unserer Regierung wieder einen äußerst unklaren Auftrag gegeben: „Weiter so, nur irgendwie ganz anders, mal sehen, ist ja schwierig alles.“ Wenn wir Pech haben, setzen die das auch um. Der späte Kohl regierte vor der Barrikade Bundesrat einen Stiefel runter, der dem Begriff „Reichsverweser“ auch geruchlich nahe kam.
Die erste Schröderatur setzte Akzente bei Homoehe und Dosenpfand, lieferte allgemein als diffus empfundene Kompromisse bei Zuwanderung und Atomkraft. In 20 Jahren käme von alldem ins Geschichtsbuch, dass sie in den ersten Krieg seit 45 stolperte, den zweiten per Vertrauensfrage erzwang. Und die Wahl gewann, weil sie den dritten verweigerte. Jedenfalls bis zur Wahl.
Ein noch gröberes Raster ließe erkennen: seit fast 30 Jahren kreiselnde Debatten um das Vermorschen der Sozialversicherung. Helmut Schmidt wurde als „Rentenlügner“ getriezt. Seither verschliss ein Rudel Gesundheitsminister.
Blüm erfand eine Pflegeversicherung, die die Arbeitnehmer alleine bezahlen. Ähnlich Riesters Rentendenkmal. Bei der Arbeitslosenversicherung gilt inzwischen als großkoalitionärer Konsens: Verschmelzung mit der Sozialhilfe. Eine Versicherung, die ein Arbeitsleben lang Beiträge kassiert – und im Versicherungsfall auf die Stütze verweist. Das sollte ein Privatversicherer mal versuchen.
Kurze Pause. Es gibt da eine Wirtschaftskompetenzpartei, die als Unternehmen ungefähr so aussähe: Neuer Geschäftsführer verspricht Verdoppelung des Umsatzes auf 18 Milliarden. Und damit würde er dann auch Marktführer. Beknackt! Wissen alle – und lassen den Lustigheimer machen. Am Ende landet er bei 7 Milliarden Umsatz und sagt, sein Bereichsleiter in Düsseldorf sei schuld. In seriösen Unternehmen werden Führungskräfte schon aus geringerem Anlasse gefeuert.
Das liberale Mantra von den zwei sozialdemokratischen Parteien SPD und CDU verdeckte gleichwohl den Blick auf die vier wirtschaftsliberalen Parteien, die da gegeneinander antraten. Schwach unterscheidbar am Grad der schicken „Eigenverantwortung“, die sie dem Bürger zuzutrauen versprachen. Einig aber in der Tendenz, die Parität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber endlich aufzugeben.
Die ist ja auch ein Bastard zwischen sozialdemokratisch erträumter Fürsorge und Bismarcks Wunsch, sich politisierende Proleten und plapperndes Parlament vom Leibe zu halten. Dass Prinzipal und Prolet je zur Hälfte in die Armenkasse zahlten, taugte dem Reichskanzler als Versuch, dem Pack das SPD-Wählen auszutreiben.
Heute verteidigt die Sozialdemokratie dies Kampfmittel zu ihrer Abschaffung noch am ehesten – auf verlorenem Posten. Bei den Krankheitskosten trägt der Versicherte längst über 70 Prozent, für die Pflege arbeiten alle einen Tag extra, ein gut Teil und bald noch mehr Arbeitslosigkeit soll aus Steuern finanziert werden, und die Rente riestert, auch aus Steuern.
Also marode wie ein kariöser Zahn, die gute alte Sozialversicherung; und noch dazu eine ans Schamlose grenzende Verbrämung für ein dreifach donnerndes „Seht doch künftig zu, wie ihr alleine klarkommt!“.
Noch Bill Clinton sandte Kundschafter zu Norbert Blüm, was denn wohl mit den 40 Millionen US-Bürgern anzustellen sei, die keine Krankenversicherung haben. Ob da vielleicht das deutsche Modell …? Im Eimer, Kollege!, wäre schon damals keine unzutreffende Auskunft gewesen; die deutsche Krankenversicherung versteht sich heute zunehmend offiziell auch als Umwegfinanzierung der Pharmaindustrie. Clinton beließ folglich alles beim Alten, und das ist das Neue: Nun geht auch in Deutschland der Trend zum Mehrklassenarzt; oben Techno, unten Blindarmnarbe auch mal selber tackern.
Erneut Auszeit: Also alles schön brutalliberal privat versichern! Da kann man wählen, wie viel Rente, Zahnersatz, Pflegepersonal man will. Man kann ja auch ’ne Menge Goodies ordern, wenn man einen Mercedes bestellt. Jene Splittergruppe der Gesellschaft, die – vermutlich aus reinem Geiz – keinen Daimler finanziert, steht dann natürlich schön blöd im Weg. Sagen wir mal, so 90, 95 Prozent der Gesellschaft. Die holen sich dann Stütze ab. Woraus mit 118-prozentiger Sicherheit folgt, dass die Privatisierung der Sozialversicherung der sicherste Weg zur brutalstmöglichen Steuererhöhung wird.
Aber was reg’ ich mich auf. Kurz vor der Wahl sah es ein paar Umfrageergebnisse lang so aus, als ergäbe sich eine große Koalition als deutlichster Wählerwille. Scherzhaft raunte es, die Deutschen würden eh am liebsten regiert von einer schwarz-gelben Regierung mit Schröder und Fischer als Spitze.
Jedenfalls hätten Union und SPD gemeinsam die satte Mehrheit, das Epochenthema anzugehen. Nun warten wir ab, was die Koalitionsverhandlungen bringen: Bleibt es bei dem Versuch, die bewährten Sozialleistungen zu erhalten, drohen die anderen mit dem Untergang des Wirtschaftsstandortes. Werden Leistungen gekürzt, tritt die Opposition als Anwalt des bedrängten kleinen Mannes auf. Das konnte sich die Union lange gut anschauen: Als sie regierte, hat die SPD auch so opponiert. Ein inzwischen ebenso langes wie langweiliges Mühle-auf-und-zu-Spiel.
Einen anderen Auftrag haben die Wähler aber nicht erteilt. Vielleicht ist das mit Kreuzchenspaß am Wahlsonntag auch gar nicht zu machen. Vermutlich bräuchte es für eine angemessene Meinungsbildung zu diesen Fragen einen steuererklärungsähnlichen Formularaufwand, und den wiederum begreift dann nur noch der solide ausgebildete Wahlberater.
Womit wir bei der Option wären, dass die Sozialpolitiker sich alle untereinander wählen, weil wenigstens sie so schemenhaft ahnen, was der andere eigentlich gerade will.
Oder – wir warten ab. Läuft ja schon seit 25 Jahren so und ist ein ganz guter Test, ob bestimmte Themen für eine Wahlkampfdemokratie einfach nicht taugen. Oder ob Demokratie heißt, auch mal die Nerven zu haben abzuwarten, bis es richtig ganz groß kracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen