: Tochter, nicht Kind
von KIRSTEN KÜPPERS
So sieht es dann aus, das normale Leben: ein Wecker, der morgens klingelt, ein Freund, der sich mit einem schnellen Kuss verabschiedet, wenn er zum Einkaufen geht, ein schlafender Hund auf dem Teppichboden. Es ist jetzt viel normales Leben um Silvana Klein, dieser schmalen, dunkelhaarigen Person, die in ihrer Küche in Hannover am Tisch sitzt, mit der Kaffeetasse in der Hand: ein aufgeräumter Haushalt, ein geregelter Arbeitsplatz – solche Sachen. Wenn man aber wie die 31-jährige Silvana Klein aus einer Welt stammt, in der es nichts Ordentliches gibt, nichts Stabiles, alle Maßstäbe von Anfang an verloren sind, wenn der Alltag also dauernd wie eine Art Höllenfahrt verläuft, dann wird das Gewöhnliche zur Leistung. „Das hab ich mir selbst aufgebaut“, sagt Silvana Klein. Blass sieht sie aus, wie sie hinter ihrer Kaffeetasse sitzt. Sie hebt die Schultern, lässt sie wieder fallen. Wo man sich das Normale herholt, wenn man es wie Silvana Klein eigentlich gar nicht kennt, kann sie nicht sagen.
Die alten Fotoalben hat sie herausgeholt und auf den Küchentisch gelegt. Zum Beweis, dass alles stimmt, was sie von früher erzählt. Von den Drogen, von der Familie, von den Freiern, von der Gewalt. Damit das Gegenüber auch wirklich sieht, wie eine beschissene Kindheit und Jugend ausschaut. Bilder von groben, tätowierten Menschen vor hässlicher 70er-Jahre-Tapete sind das, langhaarig und weggetreten hängen sie auf braunen Couchgarnituren, die Augen halb geschlossen.
„Das erste Mal kam ich mit LSD in Berührung, als ich im Fruchtwasser meiner lieben Mama schwamm.“ So geht das Buch los, das Silvana Klein über diese Zeit geschrieben hat und das im Sommer auf den Markt gekommen ist. Das Protokoll ihres Entzugs. Es ist eine Geschichte, die davon erzählt, wie Menschen und Umgangsformen in Hochhaussiedlungen verwahrlosen und immer mehr kaputt gehen von einem Heroinrausch zum nächsten.
LSD und Milky Way
Mehr als 13 Jahre ist das her. Es hat gedauert mit dem Buch. „Plötzlich kam er mir in den Kopf geflogen, der Satz mit dem LSD und dem Fruchtwasser“, sagt Silvana Klein. Lange hatte sie auf diesen Anfang gewartet. Längst hat sie in ihrem neuen, normalen Leben gesessen, ein Leben, das sich inzwischen nicht mehr so ungewohnt anfühlt, weil sie es schon eine ganze Weile führt, hatte die Vergangenheit irgendwo weit hinten hingeschoben im Kopf, als das mit der Talkshow passierte.
Mit einer Erkältung lag Silvana Klein damals im Bett und guckte nachmittags Fernsehen. Da trat in einer Sendung ein Junkie auf. Einer, der jammerte. Der sagte, die miese Umgebung sei Schuld an seiner Sucht. Ein fremder Mann im Fernsehen, der etwas auslöst. Aufgesprungen vor Wut ist Silvana Klein, hat sich aufgeregt über so viel Selbstgerechtigkeit. „Da kam der Satz angeflogen. Ich hab die Schreibmaschine unterm Bett vorgezogen und gleich losgeschrieben.“ Das Buch, das allen zeigen soll, dass man es trotzdem schaffen kann.
Silvana Klein sitzt ruhig am Küchentisch, die Augen still und tief, und redet trotzdem so schnell, dass man kaum mitkommt. Das tut sie oft. Durch Zeiten, Namen und Geschichten hetzen, in haspelnden Sätzen. Als fürchte sie, ihre Worte fänden sonst draußen nicht genug Platz. „Ich hab diese innere Hektik, die ich loswerden muss“, erklärt sie. Man kann sich das vorstellen, wie sie angefangen hat auf der Schreibmaschine, eine wilde Verfolgungsfahrt, aufgeschrieben in einem schnodderigen Ton, so wie sie spricht.
Alles schreibt Silvana Klein auf: Wie ihre tabletten- und heroinabhängige Mutter sie als Baby mit Milky-Way-Riegeln gefüttert hat und sie deswegen viel zu früh die Zähne verliert. Wie die Mutter von ihrem ebenfalls drogensüchtigen Lebensgefährten grün und blau geschlagen wird, wie die Möbel aus dem Fenster fliegen und das schmutzige Geschirr herumsteht. Wie der Opa apathisch vor dem Fernseher sitzt oder ihre Freundinnen antatscht. Der leibliche Vater, ein breiter Kerl mit Vokuhila-Frisur, steht meist irgendwo am Straßenrand herum und trinkt.
So geht es weiter mit dem sehr trostlosen Aufwachsen in der niedersächsischen Kleinstadt Laatzen. Zur Schule geht Silvana Klein nur sporadisch, im Radio läuft Rod Steward, das Heroin liegt zu Hause im Wohnzimmerschrank. Irgendwann holt das Jugendamt die stark in ihrer Entwicklung gestörten kleineren Geschwister ab. Silvana Klein bleibt zu Hause, guckt zu, wie ihre Mutter die Nerven verliert, steht vor einem dunklen Wohnzimmerschrank, der für sie irgendwann einfach zu interessant wird.
Die Drogen bohren sich in ihre Tage. Mit 15 nimmt Silvana Klein gemeinsam mit der Mutter ihren ersten LSD-Trip. Es geht immer weiter abwärts. Die Mutter bekommt Aids. Der Hausdealer geht weiterhin in der Wohnung ein und aus. Silvana Klein organisiert sich ihr Leben um Heroinspritzen, Kokainpulver, Hasch, Schnaps und Prohypnol-Tabletten herum, irrt zwischen neuen und alten Bekannten umher. In Hannover hängt sie im Bahnhof ab oder in der Ladenpassage, geht im Supermarkt klauen, verkauft sich an Männer, wird vergewaltigt. Ihre Welt fällt ganz auseinander jetzt. Die Mutter ist die Freundin, die ihr die Pillen besorgt, auf öffentlichen Toiletten die Spritzen setzt und gleichzeitig diejenige, die sie am meisten verachtet. „Mir ging die Sucht immer mehr auf die Nerven, Mamas Giftaugen törnten mich total ab. Ich hasste auch, dass ich ihre Sucht teilte, demselben Gefühl hinterherjagte. Und dabei war sie die Letzte, mit der ich mich verbünden wollte“, schreibt Silvana Klein.
1996 starb die Mutter an einer Überdosis. Genauso wie fast alle Freunde und Bekannten von damals. Silvana Klein gelingt vorher der Absprung: „Am 11. September 1989 setzte ich mir auf dem Raschplatzklo, wieder mit Mama, den letzten Druck. Seitdem bin ich absolut pillen- und pulverclean.“ Beim Versuch, eine Jeansjacke zu klauen, wird sie von der Straße gefischt, landet im Gefängnis, kommt in Therapie. Dort malt sie wirre Bilder und psychedelische Muster, schreibt Tagebücher voll. Vor allem läuft sie weg von den Junkies, von einer defekten Mutter-Tochter-Beziehung, in einen neuen Anfang hinein.
Jetzt sitzt Silvana Klein da, in ihrer aufgeräumten Küche, wo es nach Putzmittel riecht, nach Zigarettenrauch und Kaffee. Ein bisschen nervös zieht sie an einer neuen Zigarette. Das Buch ist draußen, nun können alle sehen, wie sie mit dem, was gewesen ist, fertig wird. Natürlich, werde sie derzeit oft mit Christiane F. verglichen, meint sie. „Ich bin die jüngere Generation. Und wahrscheinlich sitz ich bald neben ihr in einer Talkshow.“ Es klingt nicht so, als ob ihr diese Vorstellung unangenehm wäre.
Harald Schmidt und Schnitzel
Dann sagt sie das, was sie vorhin schon gesagt hat: dass sie seit vier Jahren einen Job hat als Moderatorin bei einem lokalen Radiosender, dass sie eine ganz normale Beziehung führt mit ihrem Freund, der 34 Jahre alt ist und Musiker; dass sie nette Kollegen und Bekannte hat, mit denen sie Geburtstag feiert und auch mal ein Bier trinkt, dass sie Harald Schmitt guckt und gerne Schnitzel isst, so wie alle anderen auch, und dass sie eigentlich nicht vorhat, ständig ihre versaute Vergangenheit hinter sich herzuschleppen.
Die Fotoalben liegen auf dem Tisch. „Wenn die Abgründe sich melden, muss ich wieder in mich selbst hinabsteigen.“ Dieses pathetische Vokabular hat sie sich angewöhnt. Wahrscheinlich ist die Esoterik dran schuld. Die Wohnung ist voll von Traumdeutungsbüchern, indischen Batiktüchern, Räucherstäbchen, Teelichtern, so was.
Obwohl die Vergangenheit immer wieder einfällt in ihr neues Leben, ist Silvana Klein eine, die sich mit ihrer Biografie als Süchtige und Tochter einer Süchtigen abgefunden hat. Sie guckt die Fotos von ihrer Mutter an und sagt: „Nur Drogen im Kopp, voll krank die Frau“, ohne Rührung. Sie kann zu den Wohnblocks in Laatzen gehen, eine graue Kritzelei von sich im Fahrstuhl finden, die alten Nachbarn treffen, die immer noch schimpfen, und dann wieder gehen. Sie kann im Café an der Ecke sitzen, wo sie früher zitternd und bibbernd am Tresen stand, und ruhig einen Kaffee bestellen. Sie kann sich den Fußgängertunnel unter dem Hauptbahnhof in Hannover angucken, wo sie damals mit den anderen gedrückt hat und der jetzt zum großen Teil eine Baustelle ist. Sie läuft mit ausgestrecktem Zeigefinger an den vielen leer stehenden Geschäften vorbei, sagt: „Da hab ich früher Stofftiere geklaut und da Postkarten, der Friseur hier ist neu, den Buchladen vom Jesusfreak gab’s damals schon.“ An all die alten Plätze kann sie gehen, und da ist nichts. Nicht weil Hannover seine Drogenszene aus dem Zentrum an den Stadtrand vertrieben hat. Sondern weil Silvana Klein fertig ist damit.
In einem schwarzen Ledermantel sitzt sie dann auf der Treppe hinter dem Bahnhof, sieht auf den Beton, über ihr donnert der Verkehr einer Schnellstraße entlang. „Es kommt mir alles viel größer vor als früher“ sagt sie, „wahrscheinlich weil alles so leer ist, keiner mehr da.“ Die Augen gucken ruhig, ein bisschen misstrauisch allenfalls. Sie muss jetzt los in den Sender, die „Mondnachrichten“ moderieren. Silvana Klein steht auf mit einem Ruck.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen