Anders reisen

Let’s go Europe: Michel de Montaignes „Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“ erscheint nun in neuer Übersetzung

von ANGELIKA FRIEDL

„Das Werk ist ein trockner und kalter Reisebericht, der kaum ein anderes Verdienst hat, als uns bis in die kleinsten Einzelheiten mitzuteilen, wie der Philosoph seine vielfältigen Wasser- und Heilkuren in Deutschland und Italien anzuwenden pflegte“, urteilte die französische Zeitschrift Correspondance littéraire, als das „Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“ von Michel de Montaigne 1774 zum erstenmal erschien. Nach dem Tod des Autors im Jahre 1592 hatte das Original fast zwei Jahrhunderte in einer verstaubten Truhe auf Schloss Montaigne gelegen, ehe es in einem schwer leserlichen Zustand wieder aufgefunden wurde.

Ganz Unrecht hatte die damalige Kritik nicht. Die akribische Aufzählung von Fakten, wie die Anzahl der Mahlzeiten und die Qualität der besuchten Bäder, verhindert manchmal den bequemen Lesefluss. Doch wenn sich auch das Reisetagebuch in seiner Reflexionskraft nicht mit den „Essais“, dem Hauptwerk von Montaigne, vergleichen lässt, gibt es doch einen sehr guten Einblick in das Montaigne’sche Denken und Schreiben. Es zeigt vor allem die tolerante, dem Leben zugewandte Einstellung eines Menschen, der zugleich eine distanzierte, skeptische Grundhaltung bewahrt. In seinen Reisenotizen erscheint Montaigne wie ein Studienreisender der heutigen Zeit, der neugierig auf fremde Welten ist und der Zeit und Geld hat, sie kennen zu lernen.

1580 bricht der 47-jährige Montaigne zusammen mit einer kleinen Gruppe aus befreundeten Adligen und von einem Sekretär begleitet zu einer einjährigen Reise auf. Kurz vorher waren die „Essais“ erschienen. Ein zurückgezogenes Gelehrtenleben konnte er in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr führen. Immer wieder musste er in dieser Zeit der Religionskriege zwischen den zerstrittenen katholischen und protestantischen Parteien vermitteln.

Der Anlass für seine „italienische Reise“ – über Lothringen, Teile der Schweiz, nach Augsburg und München, über die Alpen bis nach Rom und zurück nach Frankreich – ist jedoch unklar. Manche Wissenschaftler vermuten, sein schweres Nierenleiden habe Montaigne veranlasst, berühmte Heilbäder zur Linderung seiner Krankheit aufzusuchen. Auch die schwache Gesundheit seiner einzigen Tochter kann eine Rolle gespielt haben. Für die Tochter spendete er im italienischen Wallfahrtsort Loreto eine Votivtafel. Doch wenn man die Zickzackroute der Reise betrachtet, könnten alle diese Motive sehr wohl nur ein Vorwand für die Lust am Reisen an sich sein. Reisen und Unterwegssein als existenzieller Dauerzustand: „Mein Geist rührt sich nicht, wenn die Beine ihn nicht bewegen“, schrieb Montaigne in seinen „Essais“.

Zuweilen erinnert das Tagebuch an die modernen Reiseführer mit ihrem umfangreichen Info- und Adressenteil, wenn es an jedem besuchten Ort genau ausführt, welcher Gasthof das beste Essen hat und zu welchen Preisen man Pferde mieten kann. Aber auch wenn die praktischen Gebrauchsanweisungen einen nicht unerheblichen Teil einnehmen, geht Montaignes Werk über einen reinen Reiseführer weit hinaus. „Ein Wunder, gewiss – zumindest nach dem, was man aus seinem und all seiner Leute Mund zu hören bekommt“: Leicht ungläubig klingen diese Worte, mit denen er in Loreto die Heilung eines Mannes kommentiert, der jahrelang an einem geschwollenen und schmerzenden Knie litt. Montaigne distanziert sich vom Sichtbaren, er ordnet die Welt, die ihm begegnet, vergleicht sie mit Frankreich, mit der Antike, er liefert Hintergrundinformationen zum Verständnis seines Textes.

An manchen Stellen fällt er aus der nüchternen Schreibhaltung heraus und benützt poetische Bilder und Metaphern. Die neue Übersetzung von Hans Stilett beweist, das Montaigne ein sehr sprachgewaltiger Schriftsteller war, der sich in verschiedensten Stillagen elegant zurechtfand, aber vor allem eine einfache und natürliche Sprache schätzte, die ungezwungen seinem Gedankenfluss folgte.

Montaigne liebt die kultivierte Natur des Inntals, die ihm als die gefälligste Landschaft erscheint, die er je gesehen hat. Die ungebändigte Wildnis ist ihm dagegen nicht ganz geheuer. Das Felsengebirge, das die Reisegruppe auf dem Weg durch Südtirol durchquert, rückt ihm für seinen Geschmack viel zu nahe auf den Leib. Die Wildnis ist ihm ästhetische Bereicherung, aber nur, wenn Naturwerk durch Menschenwerk ergänzt wird. An einer Loggia in der Umgebung von Lucca bewundert er, dass sie „von den Ästen und Zweigen der außenherum angepflanzten und abgestützten Reben völlig zugewachsen war: eine natürliche, lebende Laubhütte!“

Montaigne beklagt sich über seine Begleiter, die immer so schnell wie möglich an ein Ziel wollen, er dagegen hat, so behauptet er, kein anderes Ziel als die Stelle, an der er sich gerade befindet. Hier überschätzt er seine Gelassenheit. Als die Reisegruppe kurz vor Rom in einem Ort übernachtet, muss die Gruppe schon drei Stunden vor Tagesanbruch weiterziehen, so eilig hat er es, Rom zu erreichen. Er will, wie viele Reisende vor und nach ihm, keine Landsleute sehen und ärgert sich über die vielen Franzosen in Rom. Er verfällt der Sucht der Reisenden, fremde Sitten und Gebräuche mit denen der Heimat zu vergleichen. Frankreich zieht bei den Vergleichen oft den Kürzeren. Überhaupt, je näher Montaigne seiner Heimat kommt, desto spärlicher werden seine Notizen. Es ist, als würde die vertraute Umgebung die Schreiblust dämpfen.

Michel de Montaigne: „Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“. Aus dem Französischen von Hans Stilett. Eichborn, Berlin 2002. 434 Seiten, 29,90 €